Loading...

Deutsche Medien haben versucht, das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten zu erklären. Dabei wurden meist entscheiden Konsequenzen ausgeblendet, die wir in diesem Beitrag thematisieren möchten.

Es ist jetzt eine Woche her, dass Recep Tayyip Erdoğan als Präsident der Türkei wiedergewählt wurde – und das mit großer Unterstützung von Wähler*innen in Deutschland. Deutsche Medien haben versucht, das Wahlverhalten zu erklären und im Zuge dessen oft geführte Debatten über die doppelte Staatsbürgerschaft und Integration wieder aufleben lassen. Was bei der Diskussion darüber, wie es zur Wiederwahl kommen konnte, nicht berücksichtigt wurde: Die Konsequenzen der Wahl für kurdische, alevitische, armenische oder êzîdische Personen. 

Die Präsidentschaftswahlen in der Türkei sind vorbei, Erdoğan wurde wiedergewählt - und das mit großer Unterstützung von Wähler*innen in Deutschland. Während deutsche Medien  zu erklären versuchen, wie dieses Wahlverhalten zustande kommt und in sozialen Medien oft geführte Debatten über die doppelte Staatsbürgerschaft und Integration erneut aufleben, sind es vor allem die möglichen Konsequenzen für kurdische, alevitischen, armenische oder ezidische Personen, die kaum berücksichtigt werden. Denn für sie bedeutet das Wahlergebnis eine Fortsetzung von Gewalt, Bedrohung und Einschüchterung – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland.

Rassistische Ideologie in der Türkei 

Ethnische wie religiöse Minderheiten werden in der Türkei seit jeher verfolgt, ihre Sprachen wie kulturellen Bräuche werden verboten, Parteien und Politiker*innen kriminalisiert, gar ermordet – es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Türkei. Auch unter der nationalistisch-islamistischen Regierung unter Erdogan hält diese Repression an und wird zunehmend ausgeweitet. Bedeutsam für die Ideologie des Regierungsbündnisses sind zum einen die Ziele des Panturkismus, dem Wunsch der Expansion zu den alten Grenzen des Osmanischen Reiches und der Vereinigung aller sogenannter „Türkvölker“, sowie die religiöse Einheit unter dem sunnitischen Islam. Diese Vorstellung ethnischer und religiöser Einheit führt zur rassistischen Diskriminierung von Kurd*innen, Alevit*innen, Ezid*innen und Armenier*innen. Sie werden zum inneren sowie äußeren Feind erklärt: So hat der türkische Staat in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Kriege oder sogenannte „Militäroperationen“ sowohl gegen die eigene kurdische Bevölkerung als auch gegen das überwiegend kurdisch verwaltete Nordsyrien geführt.

Türkischer Nationalismus & Islamismus in Deutschland 

In Deutschland existiert ein Geflecht aus zahlreichen nationalistischen und islamistischen Organisationen, die der türkischen Regierung nahestehen, mit ihr kooperieren oder sogar von ihr gefördert werden. Ein Beispiel sind die „Grauen Wölfe“, die größte bekannte rechtsextreme Organisation in der BRD, die in der Türkei  für zahlreiche politische Morde verantwortlich ist. Oder die mittlerweile verbotenen „Osmanen Germania“, eine unter vielen türkisch-nationalistischen „Rockergruppen“. Oder AKP-nahe DITIB Moscheegemeinden, in denen regelmäßig Wahlkampfveranstaltungen stattfinden und offen gegen u.a. Kurd*innen oder Oppositionelle gehetzt wird und in einer Moschee sogar zur „Vernichtung“ aufgerufen wurde.  Zwischen diesen Organisationen kommt es auch zu Zusammenarbeiten, wie in den Jahren 2018 und 2019, als mehrere Kundgebungen zur Unterstützung der „Militäroperationen“ in Nordsyrien in deutschen Städten stattfanden.  

Für viele Menschen, die selbst oder deren Eltern vor Verfolgung des türkischen Staates nach Deutschland geflohen sind, ist das eine Kulisse der Bedrohung und Einschüchterung. Und nicht selten kommt es auch zu gewalttätigen Übergriffen von türkischen Nationalist*innen. Dabei machen türkeistämmige Linke schon seit Jahrzehnten auf das Problem und die Netzwerke türkischer Rechter aufmerksam – ohne Erfolg. Während in Frankreich etwa die Grauen Wölfe bereits verboten sind, tut sich die deutsche Politik schwer, gegen die türkische Rechte aktiv zu werden. Nicht zuletzt, weil auch wahrscheinlich außenpolitische Interessen wie etwa der „Flüchtlingsdeal“ auf dem Spiel stehen. Außerdem  schiebt Deutschland immer wieder türkeistämmige Linke,  in die Türkei ab, auch wenn ihnen dort die Inhaftierung droht. 

Rassismus, Antirassismus und die Komplexität der Migrationsgesellschaft 

Von türkeistämmigen Menschen wird hierzulande häufig angenommen, dass sie auch automatisch türkisch sind, doch diese Annahme ist vor dem Hintergrund der Heterogenität der türkischen Gesellschaft falsch und reproduziert letztlich den türkischen Rassismus. Allein Kurd*innen machen schätzungsweise ein Fünftel der Bevölkerung in der Türkei aus. So werden Identitäten von ohnehin marginalisierten und verfolgten Communities unsichtbar gemacht – eine unfreiwillige Hilfeleistung für den türkischen Nationalismus. Diese Unwissenheit und bisweilen Ignoranz der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber der heterogenen deutschen Migrationsgesellschaft zeigte sich  nach dem rassistischen Anschlag in Hanau auf besonders bittere Weise. Damals wurden auch Opfer kurdischer Herkunft kurzerhand zu ethnischen Türken deklariert, deutsche Politiker*innen trafen sich mit türkischen Politiker*innen und Gemeindevertreter*innen und diese konnten sich wiederum ungehindert als Beschützer*innen inszenieren, trotz der eigenen rassistischen Politik.  

Die türkische Regierung und ihre Anhänger*innen entdecken zunehmend dieanti-rassistische Rhetorik für sich und nutzen sie, um eigene Kritiker*innen mundtot zu machen.Jeder Verweis auf die Aktivitäten von Nationalist*innen und Islamist*innen wird im Gegenzug mit dem Vorwurf gekontert, selbst rassistisch zu sein oder dem Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft Vorschub zu leisten. Am Ende sind es alevitische, kurdische, êzîdische, armenische und viele weitere Communities, die in mehrfacher Hinsicht unter dem türkischen wie auch dem deutschen Rassismus leiden, deren Stimmen aber selten gehört werden und für deren Schutz sich kaum jemand interessiert. 



Quellen:

CJD Hamburg (Hrsg.) (2022): (Extrem) Rechte Identitäten mit Türkeibezug. Online im Internet: https://www.ufuq.de/online-bibliothek/extrem-rechte-identitaeten-mit-tuerkeibezug/ [Stand: 06.06.2023].

Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus – für demokratische Kultur in Hessen e. V (Hrsg.) (2022): Graue Wölfe und türkische Nationalisten. Online im Internet: https://mbt-hessen.org/fileadmin/user_upload/Medien/Publikationen/MBT_GraueWoelfe_A4_online.pdf [Stand: 06.06.2023].

Pehlivan, Erkan (2023): AKP-Abgeordneter hetzt in Moschee von Grauen Wölfen in Neuss. Online im Internet: https://www.fr.de/politik/akp-abgeordneter-moschee-graue-woelfe-neuss-hetze-gewalt-erdogan-tuerkei-92028541.html [Stand: 06.06.2023].

Pehlivan, Erkan (2022): Politiker:innen bei Fastenbrechen in umstrittenen Moscheegemeinden. Online im Internet: https://www.fr.de/politik/landtagswahl-nrw-politiker-fastenbrechen-ditib-milli-goerues-moscheen-91519910.html [Stand: 06.06.2023].


Diesen Beitrag gibt es gratis - oder gegen eine Spende!
Vielen Dank, dass Sie unsere Arbeit unterstützen.
Zum Spendenformular