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Nachruf auf
Trude Simonsohn
6. Januar 2022
„Wir verlieren ein Vorbild im Kampf für die Erinnerung an die Shoah und gegen heutige Formen von Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Und wir verlieren eine enge Freundin.“
Sie hatte ein unbestechliches politisches Urteilsvermögen und zugleich eine schier unerschöpfliche Kraft, für Menschlichkeit und Respekt zu werben. Jahre der Verfolgung und KZ-Haft haben Trude Simonsohn darin bestärkt, sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung einzusetzen – und dabei vor allem die junge Generation anzusprechen und zu berühren. Wie kaum eine andere hat Trude Simonsohn den Charakter und den Bildungsauftrag der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main, für deren Gründung sie sich Anfang der neunziger Jahre eingesetzt hatte, mit Herz und Verstand geprägt.
Insbesondere junge Menschen wusste die Holocaustüberlebende in unzähligen Zeitzeugengesprächen auf eine besondere Weise zu erreichen und zu ermuntern, sich mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust auseinanderzusetzen: Sie sprach Jugendliche ganz selbstverständlich auf Augenhöhe an, nahm sie in ihren Ansichten und ihrem Engagement ernst.
Ganz ähnlich hatte sie es selbst in ihrer Erziehung erfahren dürfen: Geboren am 25. März 1921 in Olmütz/Mähren, dem heutigen Olomouc in Tschechien, wuchs Trude Simonsohn geb. Gutmann in einem liberalen jüdischen Elternhaus als „Kind liebender Eltern“ auf. Vor allem von ihrer Mutter wurde sie frei, weltoffen und demokratisch erzogen. Das war damals, als Kindern ihren Eltern nicht einmal widersprechen durften, wie sich Trude in ihren Memoiren erinnerte, natürlich alles andere als zeitgemäß. Ihr Vater vermittelte ihr einen offenen Zugang zur jüdischen Identität. Als Jugendliche engagierte sie sich in der zionistischen Jugendarbeit, bereitete junge Jüdinnen und Juden auf die Ausreise nach Palästina vor.
Deportation und Überleben
Nach der Annexion der Tschechoslowakei durch die Naziarmee wurde ihr Vater Max Gutmann 1939 verhaftet und später im KZ Dachau ermordet, ihre Mutter Theodora in Auschwitz. Trude selbst geriet im Juni 1942 wegen angeblichen Hochverrats und illegaler kommunistischer Tätigkeit in Haft. Mit 21 Jahren wurde sie vor ein Standgericht gestellt und in das Ghetto Theresienstadt gebracht. Dort lernte sie den jüdischen Sozialpädagogen und Juristen Berthold Simonsohn kennen. Sie heirateten kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz im Oktober 1944. Es war der Lagerarzt Josef Mengele, der sie an der Rampe des Lagers zu einem Arbeitskommando einteilte: Panzergräben ausheben. Am 9. Mai 1945 wurde Trude Simonsohn durch die Rote Armee im KZ Merzdorf befreit. Ihr Mann überlebte in einem anderen KZ. „Ich hatte viele Chancen, tot zu sein“, sagt Trude Simonsohn in einem Fernsehinterview, „aber ich hatte Glück, trotz allem.“
Nach dem Krieg arbeitete das Ehepaar Simonsohn zunächst für die jüdische Flüchtlingshilfe in der Schweiz. Trude Simonsohn ließ sich zur Krankenpflegerin ausbilden und behandelte in einem Sanatorium in Davos tuberkulosekranke Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung. Ab 1948 widmete sie sich in Zürich der Betreuung traumatisierter Kinder und Jugendlicher, die durch den Holocaust zu Waisen geworden waren.
1950 zog das Ehepaar erst nach Hamburg und 1955 nach Frankfurt am Main, wo Trude Simonsohn im Vorstand der Jüdischen Gemeinde für Sozialarbeit und Erziehungsberatung verantwortlich wurde. Von 1989 bis 2001 war sie Gemeinderatsvorsitzende. In Frankfurt umgibt sie sich mit Menschen, die wie sie überlebt haben. Oder im Widerstand gegen das Nazi-Regime gekämpft haben. Sie mischt sich ein, berührt viele.
Gründungsmitglied des Vereins der Bildungsstätte Anne Frank
Als sich Anfang der neunziger Jahre eine Bürgerinitiative im Stadtteil Dornbusch dafür einsetzte, die Spuren Anne Franks in ihrer Geburtsstadt Frankfurt sichtbar zu machen und einen Ort der Begegnung und der Auseinandersetzung zu schaffen, nahm sich Trude Simonsohn zusammen mit Ulrike Holler und Ursula Trautwein der Sache an. Der Verein Jugendbegegnungsstätte Anne Frank e.V. wurde im Jahr 1994 gegründet. Seitdem unterstützte Trude Simonsohn als Mitglied des Beirats den Verein der Einrichtung, die 2013 in Bildungsstätte Anne Frank unbenannt wurde und sich als Zentrum für politische Bildung und Beratung gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit einsetzt sowie Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt begleitet und unterstützt.
Trudes Imperativ: „Zu allem Unrecht sofort Nein sagen“
Als Zeitzeugin sprach Trude Simonsohn viele Jahre mit Schülerinnen und Schülern über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust, über ihre Erfahrungen mit dem Terrorregime der Nazis, ihre Erinnerungen an die Konzentrationslager. Dafür nahm sie sich viel Zeit. So fuhr sie etwa im Jahr 1998 mit Mitgliedern der damaligen Jugendbegegnungsstätte Anne Frank und 16 Jugendlichen eine ganze Woche lang nach Terezin ins ehemalige Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt, begleitet vom Hessischen Rundfunk, der eine Dokumentation über die Studienfahrt drehte. „Wer von uns darüber sprechen kann, der sollte darüber sprechen“, lautete ihr Credo. „Das sind wir den Ermordeten schuldig.“ Von dem erhobenen Zeigefinger und einer überbordenden Moralisierung hielt Trude wenig. Mit den Nachfahren der Tätergeneration sprach sie offen und unverblümt und schärfte ihren Blick für Zivilcourage in der heutigen Gesellschaft: „Ihr seid nicht für das Handeln Eurer Eltern oder Großeltern verantwortlich – aber sehr wohl für Euer eigenes Tun heute und in Zukunft“, pflegte sie zu sagen.
Der sich seit Jahren verstärkende Antisemitismus hat die Holocaustüberlebende beunruhigt und immer wieder mahnen lassen. Das Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland durch den Aufstieg der AfD hat sie mit Sorge verfolgt: „Wer geglaubt hat, dass die Nazi‐Doktrin aus den Köpfen heraus ist, der irrt.“ Den Glauben an die Kraft der Aufklärung und an die Menschenrechte hat Trude Simonsohn dabei aber nicht verloren. Es gibt für sie nur eine Konsequenz, wie sie zur Eröffnung des Lernlabors „Anne Frank. Morgen mehr“ in der Bildungsstätte im Juni 2018 vor großem Publikum sagte: „Ihr müsst zu allem Unrecht sofort Nein sagen.“
Erste Frankfurter Ehrenbürgerin
Als Trude Simonsohn 95 Jahre alt wurde, folgte die Stadt Frankfurt dem Vorschlag der früheren Bürgermeisterin Jutta Ebeling und der Stifterin Helga Dierichs, den wir in der Bildungsstätte mit Nachdruck bekräftigten, diese außergewöhnliche Frau zur Frankfurter Ehrenbürgerin zu ernennen. Im Oktober 2016 erhielt sie in der Paulskirche von Oberbürgermeister Peter Feldmann die Urkunde, als erste Frau in der langen Liste der Frankfurter Ehrenbürger, eine Anerkennung für ihr lebenslanges Wirken.
Jenseits der Ehrungen und Würdigungen erlebten wir Trude Simonsohn als begnadete Witzeerzählerin und als herzlichen Menschen, mit dem man gern zusammen war. „Andere Leute sammeln Briefmarken, ich sammle Freunde“, brachte sie es selbst auf den Punkt.
Mit dem Tod von Trude Simonsohn verlieren wir ein Vorbild im Engagement gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form der Menschenfeindlichkeit. Vor allem verlieren wir eine enge Freundin. Trude Simonsohn hat die Haltung und das Handeln der Bildungsstätte Anne Frank maßgeblich geprägt. Wir verabschieden uns in großer Dankbarkeit für ihre Freundschaft und Verbundenheit.
Unsere Gedanken sind bei ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter, ihrem Enkel, ihrer Familie.
Prof. Dr. Meron Mendel & Dr. Deborah Schnabel, DirektorInnen der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main
Gabriele Scherle, Vorstandsvorsitzende des Vereins Bildungsstätte Anne Frank e.V.
Das Team der Bildungsstätte Anne Frank