Loading...

Der Film „Matrix“ ist mehr als 20 Jahre nach seinem Erscheinen noch immer für eine Überraschung gut. Denn neueren filmanalytischen Beiträgen zufolge kann er als eine Allegorie auf die Transition einer trans Person gelesen werden. Unsere Kollegin Anette John hatte diese Deutung als Teenager beim Erscheinen des Films 1999 noch nicht auf dem Zettel, findet sie aber nach einem Rewatch nicht nur faszinierend, sondern auch absolut schlüssig und widmet dem Thema den folgenden Beitrag. 

Kung-Fu, Bullet Time und Philosophie. 1999 sahen meine Freund*innen und ich „Matrix“ erstmals im Kino und waren hin und weg. Die Ästhetik, die atemberaubenden Actionsequenzen, der wilde Genremix und die philosophischen Fragestellungen des Films brachten unsere Teenagergehirne noch tagelang zum Glühen. Ein intelligenter Action-Film, der uns herausforderte? Liebten wir! Nachdem mich die Fortsetzungen aus dem Jahr 2003 etwas enttäuscht hatten, verschwand die Filmreihe wieder von meinem Radar – bis „Matrix“ mich zwei Jahrzehnte später aufs Neue überraschen sollte.

Alter Film, neue Lesart. „Matrix“ ist noch immer für eine Überraschung gut

Und das kam so: 2020, während der Hochphase der Pandemie, hörte ich den Filmpodcast „Cuts“, der sich in einer Folge mit „Matrix“ beschäftigte und dabei die Theorie erläuterte, dass der Film als eine Allegorie auf die Transition einer trans Person gelesen werden kann. Was? Das war mir völlig entgangen. Meine Neugier war sofort geweckt, ein Rewatch unumgänglich. Noch einmal begab ich mich „in“ die „Matrix“ und war erneut hingerissen.  

Die queere Lesart erschien mir mit dem neuen Wissen und Blickwinkel völlig plausibel und schlüssig, und ich zog meinen imaginären Hut vor der Leistung der Macherinnen Lana und Lilly Wachowski, denen es gelungen war, ein Filmwerk zu schaffen, das – nun 24 Jahre nach seinem Erscheinen – immer noch nicht an Aktualität eingebüßt hat und dem vielmehr das Kunststück gelingt, mir als Zuschauerin eine neue Lesart anzubieten, die meinem jüngeren Ich noch völlig entgangen war. Seither halte ich „Matrix“ für einen der am besten gealterten Klassiker der Kinogeschichte.

Doch Moment, noch einmal zurück auf Anfang. Für diejenigen, die „Matrix“ noch nicht gesehen haben: Worum geht es in dem Film eigentlich?

„Matrix“ – Die Fakten im Überblick

„Matrix“ kam 1999 in die Kinos und setzte neue Maßstäbe beim Science-Fiction-Genre. Erzählt wird von einer dystopischen Zukunft, in der die Menschheit von Maschinen versklavt wurde. Bewusst ist dieses Schicksal jedoch nur den allerwenigsten, denn die Bevölkerung lebt in einer nahezu perfekten Computersimulation (der Matrix!) – kreiert von einer ursprünglich menschengenerierten Künstlichen Intelligenz (KI), die außer Kontrolle geraten ist. Im Mittelpunkt der Handlung steht der unscheinbare Programmierer Thomas Anderson (gespielt von Keanu Reeves), der im Netz als Hacker Neo unterwegs ist. Als Neo dem mysteriösen Morpheus begegnet, präsentiert ihm dieser eine blaue und eine rote Pille und stellt ihn vor eine Wahl: Nimmt Neo die blaue Pille, lebt er weiter in der Illusion. Nimmt er die rote Pille, entscheidet er sich für eine unbequeme Wahrheit, die sein Leben vollständig verändern wird.

Der Film wurde 2003 mit „Matrix Reloaded“ und „Matrix Revolutions“ fortgesetzt. Im Dezember 2021 erschien der vierte Teil, „Matrix Resurrections“.

Warum ist „Matrix“ gut gealtert? Inwiefern kann der Film als Transition-Allegorie gelesen werden?

„Matrix“ wirkt auch heute noch sehr modern: Der androgyne Look der Figuren, die Diversität des Casts, die toughen weiblich gelesenen Figuren wie Trinity und auch die im Raum stehende Frage, welche Gefahren eine außer Kontrolle geratene KI mit sich bringen kann – all das passt immer noch in unsere Gegenwart und wirkt kein bisschen verstaubt.

Besonders faszinierend ist für mich jedoch die unterschwellige Erzählebene der Transition. Mit dem neuen Blickwinkel hatte ich das Gefühl, einen „alten“ und mir bekannten Film völlig neu entdecken zu dürfen. Dabei steht bei dieser Lesart Neo metaphorisch für eine trans Person, die zu Beginn des Films noch nicht out ist und im Laufe der Handlung einen Transformationsprozess durchläuft, sich selbst ergründet und zu dem Menschen wird, der er eigentlich immer war. Als Thomas Anderson fühlt er ein großes Unbehagen in der Welt, in die er nicht reinzupassen scheint. Die rote Pille wird zum Sinnbild dafür, sich von einem unaufrichtigen Leben zu verabschieden, in das man hineingezwängt wurde (eine binär konstruierte Gesellschaft, die trans Menschen nicht akzeptiert). Das Erwachen ist zunächst schmerzhaft und brutal für Neo (wie auch für sehr viele trans Menschen, die sich outen), aber schließlich lernt er, dass er Regeln, die ihm indoktriniert wurden, überwinden kann, wächst über sich hinaus und beginnt, zu seinem wahren Ich zu stehen.

Mit dieser neuen „Brille“ auf den Film blickend, bekommt auch die Szene in der U-Bahnstation, in der Neo im Kampf gegen seinen Widersacher Agent Smith antritt, eine völlig neue Bedeutung. Smith genießt es geradezu, Neo nicht bei seinem selbstgewählten Namen zu nennen, sondern ihn voller Abscheu immer wieder und wieder mit „Mr. Anderson“ anzusprechen. Eine klare Metapher für verletzendes Deadnaming von trans Menschen. Die Szene endet mit Neos Befreiung, bei der er Smith entschlossen entgegenschreit: „My name is Neo!“

Auch die Figur Switch sollte – wie die Regisseurin und Drehbuchautorin Lilly Wachowski in einem Interview mit Netflix verriet – ursprünglich trans sein: In der echten Welt männlich gelesen, in der Matrix mit dem Frauenkörper, den sie sie wünscht (doch das Studio entschied sich dagegen). Auch Neos Abschlussmonolog im Film, in dem er eine „world without rules and controls, without borders or boundaries. A world where anything is possible“ herbeisehnt, kann in eine queere Richtung interpretiert werden.

Die Lesart von „Matrix“ als Allegorie auf eine Transition ist in der trans Community schon länger verbreitet und auch Gegenstand von vielen filmanalytischen Beiträgen. Wegweisend war hier der Artikel der amerikanischen Journalistin und trans Frau Emily St. James von 2019 mit dem Titel „How The Matrix universalized a trans experience – and helped me accept my own“.

Eine Rolle spielt in diesen Beiträgen häufig auch, dass Lilly und Lana Wachowski, die Macherinnen von „Matrix“ (Drehbuch und Regie) selbst trans Frauen sind, die zum Zeitpunkt des Filmdrehs aber noch nicht out waren. Auf die Frage hin, ob die queere Allegorie intendiert war, erklärte Lilly Wachowski in einem Interview mit them im April 2023: „When people say, ‚Oh, it’s a trans allegory,‘ it’s like, Yeah … it is, but we weren’t like, ‚Hey, let’s write a trans allegory.‘ That’s not how it started. We were like, ‚Hey, let’s write this action film,‘ and then we got our trans all over it. [lacht].“ In dem zuvor erwähnten Netflix-Interview erläuterte sie außerdem, dass es in „Matrix“ sehr stark um das Verlangen nach Transformation ging, aber eben aus einer nicht geouteten Perspektive.

Was ist nicht gut gealtert oder problematisch an „Matrix“?

Ich bin kein Fan der religiös angehauchten Erlösererzählung in „Matrix“, das ist aber schlicht Geschmackssache. Als klar problematisch empfinde ich nicht, was der Film ist, sondern wie er in bestimmten Kreisen gedeutet wurde.

Seit den 2010er-Jahren wurde die Pillen-Metapher aus „Matrix“ nämlich von rechten Gruppierungen gekapert und für ihre Ideologie vereinnahmt. Der Ausdruck „Red Pill(ing)“ wurde zunächst von zutiefst misogynen und antifeministischen „Männerrechtlern“und Incels in Netzforen verbreitet und dann von Aktivist*innen der US-amerikanischen Alt-Right-Bewegung übernommen. Die „erleuchteten“ „Red Piller“ glauben – typisch Verschwörungstheoretiker*innen – eine vermeintliche unbequeme „Wahrheit“ erkannt zu haben, die anderen entgeht. Sei es die krude Vorstellung, dass es letztendlich Frauen sind, die Männer unterdrücken und nicht umgekehrt, oder die Idee einer linken „Elite“, die die Bevölkerung versklaven möchte, der „Gleichschaltung“ der Medien bis hin zur jüdischen Weltverschwörung oder der Fantasie eines weißen Genozids durch Abtreibung und Einwanderung. Die Liste kann noch fortgeführt werden.

Gegen diese politische und rechte Vereinnahmung ihrer Kunst haben sich Lilly und Lana Wachowski klar positioniert. Als Elon Musk 2020 auf Twitter den Aufruf postete „Take the red pill“ und Ivanka Trump mit „Taken!“ antwortete, reagierte Lilly Wachowski mit einem klaren „F**k both of you“ und rief zudem ihre Fans auf, für die Brave Space Alliance zu spenden, die sich für trans Menschen einsetzt.

Auch die jüngste Fortsetzung der Reihe „Matrix Resurrections“ (2021) von Lana Wachowski behandelt auf einer selbstreflexiven Metaebene, wie „Matrix“ von rechten Kreisen (aber auch Hollywood) gekapert wurde und macht kein Geheimnis daraus, dass die Macherinnen not amused darüber sind. Der Film kann als ein Versuch gelesen werden, sich gegen diese Vereinnahmung der Red-Pill-Metapher durch die rechte Ecke zur Wehr zu setzen, was zum Beispiel in einem Zitat der Figur Bugs zum Ausdruck kommt, die bitter erklärt: „That’s what the Matrix does. It weaponizes every idea. Every dream. Everything that’s important to us.“

Die Metaphorik des Films kann und wird also ganz klar auch von rechten Kreisen missbraucht. Wichtig festzuhalten ist jedoch, dass diese Lesart von den Macherinnen nicht intendiert war und toleriert wird – sie sich vielmehr klar dagegen positionieren. Doch ist es nicht ironisch, dass ausgerechnet rechte Gruppierungen den erfolgreichsten Film, der bisher von trans Personen kreiert wurde, für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren? Für mich bleibt „Matrix“ ein Meisterstück der Filmgeschichte und ist somit auch heute noch unbedingt sehenswert.


Ein Beitrag aus der Reihe „(Un)hyped“ der Bildungsstätte Anne Frank. 

Im Mai 2023 starteten wir unsere neue Reihe „(Un)hyped“. Dabei wollen wir in regelmäßigen Abständen Filme, Serien, Bücher, Games, Genres und andere popkulturell relevante Formate kritisch unter die Lupe nehmen und in Hinblick auf unsere Kernthemen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit untersuchen. Welcher Film ist gut gealtert – welcher schlecht? Und welche Serie ist so problematisch, dass sie vielleicht einfach gecancelt werden sollte? Unterschiedliche Kolleg*innen der Bildungsstätte teilen ihre Perspektiven.