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Machtübertragung, Machtübernahme oder Machtergreifung?
Der 30. Januar 1933 und wie wir darüber sprechen
Heute vor 91 Jahren, am 30. Januar 1933, ernannte der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Dieser Tag markiert das Ende der Weimarer Republik. Nach der Ernennung zum Reichskanzler hebelten Hitler und die NSDAP das demokratische System Stück für Stück aus und errichteten die NS-Diktatur.
Machtergreifung
Am gängigsten ist wahrscheinlich der Begriff „Machtergreifung“, der auf mehreren Ebenen problematisch ist. Laut dem Historiker und Schriftsteller Dan Diner ist „Machtergreifung“ nämlich eine gezielte Wortschöpfung der NS-Propaganda.
Zusätzlich impliziert der Begriff, dass der Beginn des NS-Regimes ein quasi revolutionärer Akt gewesen wäre. Damit trägt er zu Entlastungserzählungen bei, denn Hitler hat die Macht nicht ergriffen – sie wurde ihm übergeben, als ihn Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt hat. Die NSDAP wurde demokratisch gewählt, obwohl ihre menschen- und demokratiefeindlichen Einstellungen bekannt waren. Große Teile der Bevölkerung haben also die antisemitische und rassistische Ideologie der Nazis befürwortet.
Machtübernahme
Letztes Jahr haben wir in unserem Post von einer „Machtübernahme“ gesprochen, ein Begriff der öfter als Alternative gewählt wird. Zurecht habt ihr kritisiert, dass auch „Machtübernahme“ ein Propaganda-Begriff war. Denn die Nazis gingen zunehmend zu dem Begriff über, um den Beginn des NS-Regimes zu legalisieren und negative Konnotationen der Unrechtmäßigkeit zu vermeiden. Sie behielten aber teilweise die Begriffe von “Nationaler Erhebung”, “Wiedergeburt” und “Revolution” bei, um ihre völkische Legitimation zu begründen. Auch das Wort Ermächtigungsgesetz ist in diese Narration einzuschreiben.
Machtübertragung
Ein weiterer Alternativbegriff ist die „Machtübertragung“ (oder „Machtübergabe“). Hier wird der Fokus nicht auf die Personen gesetzt, die die Macht erhalten, sondern jene, die es Hitler und der NSDAP ermöglich haben, an die Macht zu kommen. Der Begriff wird unter anderem vom Haus der Wannseekonferenz genutzt und auch wir finden ihn passender. Doch es gibt auch an diesem Begriff Kritik: In einem Gespräch mit Deutschlandfunk Nova gibt der Historiker Peter Longerich zu bedenken, dass “Machtübertragung” auch nicht der passende Begriff sei. Denn der Prozess, mit die NS-Herrschaft etabliert wurde, lief nicht völlig legal ab und war in vielerlei Hinsicht von Gewalt geprägt.
Was ist jetzt richtig?
Abschließend lässt sich wahrscheinlich nicht sagen, welcher Begriff der richtige ist. Der Historiker Longerich empfiehlt etwa von einer sogenannten „Machergreifung“ in Anführungszeichen zu sprechen. Wir finden „Machtübertragung“ in der Hinsicht passend, dass die Verantwortung der politischen Akteure und der Bevölkerung in den Fokus gerückt wird. Es gibt hier vielleicht auch kein eindeutiges richtig oder falsch – wichtig ist es vor allem, sich mit NS-Propaganda-Begriffen auseinanderzusetzen und diese nicht unbewusst oder ohne Kontextualisierung zu reproduzieren.
Im Rahmen unserer neuen Reihe "Off the record" nehmen wir unsere Erinnerungskultur unter die Lupe – und versuchen, die Personen, Ereignisse und Aspekte zu thematisieren, die nicht genug Raum bekommen.