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Aktuell schürt die russische Regierung im Kontext des Ukraine-Kriegs unterschiedliche Verschwörungstheorien. Wir sprachen mit der Publizistin Katharina Nocun über diese gefährlichen Narrative.

Aktuell schürt die russische Regierung im Kontext des Ukraine-Kriegs unterschiedliche Verschwörungstheorien, z. B. die von der „Entnazifizierung“ des Landes. Die Regierung des jüdischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der demokratisch gewählt wurde und dessen Angehörige zu den Opfern der Shoah gehören, bezeichnet Wladimir Putin als „faschistisch“. Die Invasion wird von ihm zudem nicht als solche benannt, sondern als „militärische Spezialoperation“. Russische Medien werden dabei gezielt zur Desinformation der Bevölkerung eingesetzt.

Wir sprachen mit Katharina Nocun, Publizistin und Expertin für Verschwörungserzählungen, über diese gefährlichen Narrative, das Verbot von Russia Today, das „Z“ in vielen aktuellen TikTok-Videos, welche Rolle deutsche Rechte bei der Putin-Propaganda spielen und wie wir die mediale Desinformation ebenso wie den wachsenden Antislawismus gegen Russ*innen in Deutschland bekämpfen können.

Frau Nocun, welche Verschwörungstheorien sind Ihnen im Kontext des Ukraine-Konflikts begegnet und welche Agenda wird aus Ihrer Sicht dabei verfolgt?

Bei weiten Teilen der verschwörungsideologischen Szene kann man eine sehr starke Putin-Verehrung beobachten. Das heißt, er wird als starker Mann, als Anführer verehrt, und durch die Brille dieser Verehrung sieht man auch den Krieg. Bzw. entsprechend des russischen Narrativs wird das teilweise nicht einmal als Krieg angesehen. Ukraine wird als Schuldiger betrachtet. Es wird behauptet, dass Medien lügen würden. So werden z. B. Bilder von zerbombten Städten oder von Opfern von Bombenangriffen als Fake dargestellt. Egal, wie viele Quellen es dazu gibt, die anderes belegen können. Man möchte diesem Narrativ der russischen Regierung eben glauben, dass es auf gar keinen Fall sein könnte, dass die russische Armee dort Leid verursacht.

Damit geht natürlich eine Legitimierung der Invasion einher, bei gleichzeitigem Negieren, dass es sich überhaupt um eine Invasion handelt. Auf logischer und gedanklicher Ebene wird so ein ziemlich großes Kunststück vollbracht. Teilweise sehen wir auch Verschwörungserzählungen, in denen behauptet wird, das wäre eine Art „abgekartetes Spiel“ zwischen Ukraine und Russland – und eigentlich ein Ablenkungsmanöver. Dahinter würde beispielsweise eine jüdische Weltverschwörung stecken. Man sieht also auch hier: Der jüdische Glaube des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj spielt ebenfalls eine Rolle.

Eine unabhängige und kritische Berichterstattung ist innerhalb Russlands kaum möglich. Ist die mediale Propaganda in Russland der entscheidende Grund dafür, warum ein Teil der Russ*innen Putins Verschwörungsnarrativ glauben? Gibt es weitere Gründe?

Es gab einige Medienberichte in den letzten Wochen, in denen es hieß, dass Menschen aus Ukraine Angehörige in Russland angerufen hätten mit Worten wie: „Hör mal, hier sind Sirenen, ich muss mich im Keller verstecken. Menschen in meinem Dorf sind gestorben.“ Und der Mensch am anderen Ende der Telefonleitung wollte das nicht glauben. Daran sieht man eben auch den Effekt von Propaganda. Das ist nichts, was von heute auf morgen passiert, sondern ein über Jahre hinfort schreitender Prozess, der irgendwann dazu führt, dass Menschen eine innere Abwehr aufbauen gegen anderslautende Informationen, die der Propaganda, dem eigenen Weltbild widersprechen.

Man muss sagen, „der Westen“ wurde langfristig als Feindbild aufgebaut, ebenso die ukrainische Regierung. Diese wurde als „faschistisch“ dargestellt – historisch wurde argumentiert, Russland hätte damals den Faschismus in Deutschland besiegt, dementsprechend müssen Feinde Russlands auch faschistisch sein, sehr vereinfacht gesagt. Es wurde wiederholt von russischen Nationalisten kommuniziert, dass Ukraine kein eigenständiger Staat sei. Es wurde auch immer wieder so dargestellt, dass die Entscheidung der Menschen in Ukraine, etwa für eine Annäherung an die EU oder das Interesse an einer NATO-Mitgliedschaft, nicht aus Ukraine selbst komme. Sondern sie sei von außen aufoktroyiert, beispielsweise durch die NATO. An dieser Stelle wird vollkommen ausgeblendet, dass Ukraine natürlich auch eigene Interessen hat, dass die Menschen dort sehr aufmerksam beobachtet haben, was in den letzten Jahren z. B. in Georgien passiert ist. Natürlich auch, was auf der Krim passiert ist. Von daher ist nachvollziehbar, dass Menschen dort sagen: Wir möchten einem Verteidigungsbündnis beitreten. Das wird in der Berichterstattung aber komplett ausgeblendet.

Welche Kanäle werden konkret zur Desinformation genutzt und wie schätzen Sie das Verbot von Russia Today ein?

Auf Social Media findet man Bilder von Menschen, die beispielsweise Zettel hochhalten mit dem Buchstaben „Z“. Es gab auch einen Sportler bei einer Preisverleihung, der den Buchstaben „Z“ auf dem Trikot hatte. Es gab Bilder von Kindern, die den Buchstaben „Z“ gemeinsam formen, so dass man ihn aus der Vogelperspektive sehen kann. Das ist ein Symbol für die Unterstützung des russischen Angriffs auf die Ukraine, denn auf zahlreichen Militärfahrzeugen der russischen Armee ist der Buchstabe „Z“ abgebildet. Man sieht auch, dass es in den sozialen Netzwerken vereinzelt Trends gibt, in denen dazu aufgerufen wird, das Symbol „Z“ darzustellen, um so die Unterstützung für einen Krieg, der nicht so heißen darf, zu zeigen. Es gibt etwa auf TikTok den sogenannten „Z-Dance“, wo Influencer mit den Fingern das Zeichen „Z“ formen, untermalt mit lustiger Musik. Und es ist überhaupt nicht lustig, wenn man auf diese Weise sagt: Es sei okay, dass eine Invasion stattfindet.

Aber in den russischen Medien wird nicht von einem Krieg oder Invasion gesprochen, dort wird es als Militäroperation verkauft, bei der angeblich keine Zivilisten zu Schaden kommen würden, was nachweislich eine Lüge ist. Wir sehen, dass derzeit auf Telegram Kanäle von Russia Today gesperrt werden. Russia Today, Sputnik und auch andere russische Staatsmedien haben in den vergangenen Jahren eine starke Rolle bei der Verbreitung von Desinformation über Russland, aber auch von Verschwörungserzählungen aller Art, gespielt. Sie spielen eben auch eine starke Rolle in der verschwörungsideologischen Szene. Mit der Sperrung ist nicht erreicht, dass das alles jetzt weg ist. Man kann das natürlich umgehen, erst einmal durch technische Maßnahmen und zudem können Inhalte auch in anderer Form weiterverbreitet werden. Wir wissen nachweislich, dass russische Akteure Menschen beschäftigen, die Fake-Accounts auf Social Media-Plattformen betreiben und systematisch russlandfreundlich kommentieren. Sie greifen Leute an, die eine andere Meinung vertreten. Das Verbot von Russia Today und anderen Medien wird erst einmal dazu führen, dass die Reichweite sinkt, aber man muss sich klarmachen, dass Propaganda und Desinformation einen Weg drumherum finden. Dann steht nicht mehr Russia Today offiziell auf dem Account, aber die Inhalte haben sich wenig verändert.

Welchen Anteil haben deutsche Rechte an der Verbreitung der Putin-Propaganda?

Die Verehrung von Putin in rechten und rechtspopulistischen Strukturen ist groß. Er wird als starker autoritärer Führer gesehen, er hat sich oft als männlich in seinen PR-Auftritten inszeniert: Es gibt Fotos, auf denen er oberkörperfrei reitet, mit Waffen posiert, Judo macht und kämpft. Er wird sozusagen als Gegenmodell zum angeblich verweichlichten westlichen Mann gesehen. Putin vertritt sehr reaktionäre, rechts gerichtete politische Anschauungen, er hat seit Jahren gegen LGBTIQ-Rechte gehetzt, die Demokratie wird innerhalb dieses Modells als verweichlicht gesehen. Und natürlich gibt es auch eine Verbindung zwischen der AfD und Putin-freundlichen Kräften. Auch einzelne Abgeordnete der AfD waren vor nicht allzu langer Zeit bei einer Konferenz auf der Krim anwesend. Diese Konferenz hat auch dazu gedient, den russischen Anspruch auf die Krim zu festigen. Auch das war eine völkerrechtswidrige Invasion, die dort stattgefunden hat.

Es gibt andererseits einzelne rechtsextreme Gruppierungen, die Putin ablehnen. Es gibt beispielsweise einzelne rechtsextreme Gruppen und Parteien, die derzeit die ukrainische Unabhängigkeit unterstützen. Der Grund dafür sind vor allem auch schon vor dem Krieg existierende Netzwerke zwischen rechtsextremen Strukturen in den unterschiedlichen Ländern.

Welche Möglichkeiten haben in Deutschland ansässige Menschen der medialen Desinformation in Russland entgegenzutreten?

Menschen, die Putin unterstützen, tun dies oft auch aufgrund jahrelanger Propaganda. Es wäre naiv anzunehmen, dass ein, zwei gute Sätze oder Argumente dieses Gedankenkonstrukt, das er über Jahre aufgebaut hat, zum Einstürzen bringt. Wir wissen aus anderen Bereichen von ideologisch gefestigten Weltbildern, dass das ein schwieriger Prozess ist. Man hat größere Chancen auf Erfolg, wenn Argumente und die Gegenrede von Menschen kommen, denen vertraut wird. Es macht einen Unterschied, ob eine vollkommen fremde Person schreibt und sagt: „Hier, schau dir diese Bilder aus der Ukraine an.“ Den Menschen in Russland wird gezielt gesagt, dass es sich beispielsweise um Photoshop-Fakes handelt, denen man auf gar keinen Fall glauben dürfe. Es gibt eine systematische Abwehr gegen solche Kritik.

Es ist etwas ganz Anderes, wenn etwa mein bester Freund, meine beste Freundin sagt: „Du, heute habe ich in Berlin am Hauptbahnhof mit drei Leuten aus Ukraine gesprochen, die vollkommen aufgelöst waren und geweint haben. Da waren Kinder, die von Schüssen während der Fahrt berichtet haben – und diese kamen eindeutig von der russischen Armee. Überlege, ob sie dir wirklich die Wahrheit sagen im Fernsehen." Bei solchen Gesprächen würde ich auch immer raten, sich genau zu überlegen, was gute Argumente sind. Lieber ein paar Argumente pro Diskussionsrunde platzieren und nicht alles auf einmal. Und sich auch klarmachen: Wenn jemand wirklich über Jahre hinweg Putin-Unterstützer war, wird es einiges brauchen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Putin ist nicht gleich Russland und schon gar nicht die Russ*innen, von denen viele selbst trotz der Gefahr einer jahrelangen Gefängnisstrafe mutig gegen den Krieg demonstrieren. Dennoch fördert die Invasion der Ukraine durch Putin antislawischen bzw. im speziellen antirussischen Rassismus auch in Deutschland – mit Beleidigungen von Menschen mit russischen Wurzeln oder Aufrufen zum Boykott russischer Restaurants und der russischen Literatur im Allgemeinen.

Warum gedeiht die pauschale Vorverurteilung von Menschengruppen im Umfeld von Verschwörungstheorien so gut? Ist das ein typischer Nebeneffekt/Ziel von Verschwörungstheorien?


Natürlich können Verschwörungserzählungen dazu beitragen, dass Rassismus und Antisemitismus verbreitet wird. Ich würde es mir aber nicht so einfach machen, jeglichen Rassismus auf Verschwörungserzählungen zu schieben. Wir müssen einfach erkennen: Antislawischer Rassismus in Deutschland ist kein neues Phänomen. Ich kann mich noch an meine Schulzeit in den 1990er-Jahren erinnern (ich komme aus Polen), ich habe ständig „Witze“ darüber gehört, dass Polen klauen, für mich war das überhaupt nicht lustig. Dass wir ungebildet sind, dass wir nichts Besseres können als Putzen, dass wir Sozialschmarotzer sind – ganz schreckliche Worte, die man schon als Kind hört. Ähnliches gab es auch gegenüber Spätaussiedlern und Geflüchteten aus Russland.

Man muss sich einfach klarmachen: Das ist noch irgendwo in unserer Gesellschaft verankert und man darf niemals aufhören, gegen solche Stereotype und Vorurteile anzugehen. Ich halte überhaupt nichts davon, russische Literatur zu verbannen – damit bestraft man nicht Putin, damit bestraft man vor allem das, was sich an der russischen Kultur Putin entgegenstellen könnte. Ich fände es gut, wenn wir beispielsweise sagen würden, wir bieten in Deutschland gezielt ein Podium für all‘ jene, die kritisch gegenüber Putin sind. Für Literatur, für Sachbuchautoren, die sich kritisch mit Themen im Land beschäftigen, die aber auch keine Perspektive mehr in Russland haben. In den letzten Tagen sind Tausende über die Grenzen geflohen, weil sie zum Beispiel sagen: „Wenn ich 15 Jahre Gefängnis riskiere, sobald ich meine Meinung sage oder weiterhin als Journalist*in arbeite, oder für das, was ich in den letzten Tagen allein auf Social Media über den Krieg gepostet habe, dann sehe ich hier keine Zukunft mehr.“ Ich finde, dass wir diesen Menschen, Bürgerrechtsaktivisten und Journalisten hier auch Zuflucht geben sollten.

Wie kann man gegen antirussischen Rassismus vorgehen und eine differenzierte Sicht in der Zivilgesellschaft fördern?

Ich fände es wichtig, dass wir weniger über „die Russen“ sprechen, sondern klar differenzieren. Das, was passiert, ist die Schuld der Regierung, der Regierung Putin und nicht jeder in Russland und nicht jeder außerhalb, der russische Wurzeln hat, unterstützt das. Ich fände es außerdem wichtig, dass wir gesellschaftlich sichtbar machen, wie viele Menschen mit russischen Wurzeln eigentlich derzeit bei der Ukraine-Hilfe aktiv sind. Da ist eine sprachliche Nähe, viele Menschen aus der Ukraine sprechen Russisch und was ich lokal in Berlin beobachtet habe, ist, dass viele russisch-sprachige Menschen dort einspringen und helfen, und das ist unverzichtbar. Sonst könnte man sich teilweise auch überhaupt nicht verständigen, da viele auch nicht Englisch sprechen.

Was mir wichtig wäre, ist vor allem Zivilcourage - dass wir einschreiten, wenn wir beobachten, dass Rassismus oder Antisemitismus irgendwo stattfinden. Dass wir nicht warten, bis Betroffene das selbst regeln, sondern: Wir als Gesellschaft sind dafür verantwortlich, dass so etwas nicht passiert. Und wenn es passiert, dass es schnell ein Ende hat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Katharina Nocun gehört zur Expert*innenrunde unserer aktuellen Sonderausstellung „matter of fact – Warum wir an Verschwörungstheorien glauben wollen“

Zudem hat sie gemeinsam mit Pia Lamberty die Bücher „Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ und „True Facts: Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft“ verfasst. Ihr nächstes gemeinsames Buch „Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik“ erscheint im September 2022 im Quadriga-Verlag.

Wer noch mehr über Katharina Nocun erfahren möchte, dem empfehlen wir ihren Blog rund um das Thema Politik in einer vernetzten Welt und/oder ihr über die sozialen Netzwerke zu folgen:

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