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Zu finden ist der Stand am Rande des Friedrichsplatzes, Ecke Schöne Aussicht. Dort ist unser Team noch bis zum 19. August (Dienstag, Mittwoch und Freitag von 12-17 Uhr) vertreten.

Wir haben unsere pädagogische Leiterin Julia Alfandari nach ihren Erfahrungen vor Ort gefragt.

Julia, wie wird das Angebot angenommen?
„Die allermeisten Besucher*innen sind dankbar, dass wir da sind: Wir ordnen ein, vermitteln und treten in die Diskussion mit einem offenen und interessierten Publikum. Die Menschen, die zu uns kommen, haben einen enormen Bedarf an Austausch, Orientierung und Information. Das ist toll! Sie wollen verständlicherweise über die ganz großen Fragen der vergangenen Wochen diskutieren: Es geht um Antisemitismus in der Kunst, die Grenzen von Kunstfreiheit, um das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus. Und genau dafür sind wir ja auch da.“

Wie sehen die Gespräche aus? Was fällt auf?

„Die Documenta ist leider ein Spiegel der Gesellschaft, wenn es um Antisemitismus geht: Trotz der wochenlangen Debatte stellen wir fest, dass auch unter dem Documenta-Publikum sehr wenig Wissen über Antisemitismus besteht und es an der Kompetenz mangelt, Antisemitismus überhaupt zu erkennen – auch im bildungsbürgerlichen Milieu. Und mehr noch: Antisemitismus, antisemitische Stereotype und Verschwörungsnarrative sind auch unter Personen verbreitet, die sich selbst für aufgeklärt halten. Ähnliches gilt für Rassismus.“

Kannst du uns ein paar konkrete Beispiele nennen?

Zum Beispiel äußerten viele die falsche Annahme, dass das Banner auf dem Friedrichsplatz wegen einer Kritik an der israelischen Besatzungspolitik abgehängt wurde. Das war bekanntlich nicht der Fall, das müssen wir immer wieder erklären: Grund für die Kritik und die Entfernung der Arbeit von Taring Padi war ja der offene Judenhass, die sehr plakative antisemitische Bildsprache an der Grenze zur Volksverhetzung – wir erinnern uns: Zu sehen waren ein stereotypisierter Jude mit Reißzähnen und SS-Runen am Hut und eine Soldatenfigur mit Schweinsnase, Davidstern und Mossad-Signet (Mehr dazu in unserem Flyer „Antisemitismus ist keine Kunst!“).

Das wissen zahlreiche Menschen tatsächlich gar nicht. Viele sind interessiert, offen und dankbar für unsere Erläuterung und Einordnung. Andere bleiben irritiert, nach dem Motto: ‚So ein Riesenskandal wegen diesen wenigen winzigen Figuren – musste das wirklich sein?‘ Das sei Zensur und eine Einschränkung der Kunstfreiheit. Der Hinweis, dass Kunstfreiheit manchmal im Konflikt mit anderen Rechten und Freiheiten steht, fällt manchmal auf fruchtbaren Boden, manchmal auch nicht. Oft werden sogar NS-Vergleiche gezogen: Das, was ‚ihr‘ unterstützt, gleicht dem, was die Nazis damals mit Künstler*innen und Kunst gemacht haben.

Und häufig geht es dann erst richtig los mit der Verbreitung antisemitischer Ressentiments.

Ihr seid am Stand also direkt mit Antisemitismus konfrontiert?

„Ja, viele äußern ihren Unmut über den angeblich besonderen Stellenwert von Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft und ihrer Macht. Eine Person sagte, die Deutschen ließen sich immer ‚von ihren Juden geißeln‘. Eine andere, dass es peinlich für Deutschland sei, wie wir mit unseren Gästen aus dem Ausland umgehen, ‚nur wegen der Juden‘.“

Da wären wir also wieder beim Thema Verschwörungstheorien.

„Genau, inzwischen gibt es sogar eine eigene große Documenta-Verschwörungserzählung: Angeblich war das alles nämlich ein Ablenkungsmanöver von Israel, um Aufmerksamkeit von der ermordeten palästinensischen Journalistin Schirin Abu Akle abzuwenden*, so wurden wir belehrt. Mit anderen Worten: Taring Padi handelte eigentlich im Auftrag des Mossad!

Zahlreiche Menschen wünschen sich, dass das Bild noch hängen würde, denn sie wollen sich selbst eine Meinung bilden. Dass das Wimmelbild gewaltvolle Bildsprache transportierte und ein Zeigen diese normalisieren würde, können nur wenige nachvollziehen. Plötzlich sind alle Antisemitismus-Expert*innen.“

Wie verhält es sich mit dem Thema Rassismus?

„Oft werden die Kurator*innen und Künstler*innen aus Indonesien mit einem paternalistischen, fast schon neokolonialen Argument in Schutz genommen: ‚Sie könnten es angesichts ihres Backgrounds ja nicht besser wissen! Wenn wir uns Leute aus dem ‚Globalen Süden‘ reinholen, dann müssten wir damit auch rechnen, dass wir uns Antisemitismus zur Documenta holen!‘ Antisemitismus wurde auch oft als ein ‚muslimisches Problem‘ dargestellt und somit auf von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abweichende Andere ausgelagert.

Manche Besucher*innen bekundeten wiederum, dass Antisemitismus zu viel Aufmerksamkeit erhielte. ‚Über den Rassismus in der deutschen Gesellschaft wollte aber niemand sprechen.‘ Dass das Bild von Taring Padi sich auch an rassistischer Bildsprache bediente, indem z.B. ein Schwarzer Mensch auf krasse Weise rassistisch und sexualisiert dargestellt wurde, wusste kaum jemand und es schien vielen Besucher*innen auch kaum relevant.

Welches Fazit ziehst du bisher von der Aufklärungsarbeit am Stand auf der Documenta?

Die vergangenen Wochen haben zu einer massiven Verstärkung der Lagerbildung geführt – Antisemitismuskritiker*innen auf der einen Seite, Kolonialismus- und Rassismuskritiker*innen auf der anderen Seite. Die Erfahrungen am Stand zeigen, wie wichtig Angebote der politischen Bildung sind, die Antisemitismus und Rassismus gleichermaßen in den Blick nehmen und sich einer Polarisierung widersetzen. Hier sehen wir weiterhin dringenden Bedarf, Brücken zu bauen, aber auch klare Grenzen zu setzen, wenn Antisemitismus oder Rassismus geäußert werden.

Wir erleben am Stand ein aus unterschiedlichen Gründen aufgebrachtes, empörtes und stark emotionalisiertes Publikum. Es wird die Aufgabe von Schulen und den Einrichtungen der politischen Bildung sein, diese aufgeheizte Stimmung aufzufangen und die diversen, teils komplexen Spannungsfelder in Bildungsangeboten zu vermitteln und produktiv zu bearbeiten.

Mein Blick in die Glaskugel? Es kommt auf jeden Fall einiges an Arbeit auf uns zu!

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Bildungsstätte Anne Frank bietet zu den Themen Antisemitismus und Rassismus kontinuierlich Workshops für Schulklassen und Fortbildungen für Lehrkräfte sowie Vorträge für junge Menschen und Erwachsene an. (Mehr dazu finden Sie unter „Junges Programm“ und „Erwachsenenbildung“).

Darüber hinaus möchten wir mit der Veranstaltung „Kunst und Kontext – Von der Mbembe-Debatte bis zur documenta fifteen: Der Kunst und Kulturbetrieb zwischen Antisemitismuskritik und Postkolonialismus“ am 22. September die Diskussion weiterführen, die wir im Juli bei dem Podium „Antisemitismus in der Kunst“ (auf YouTube abrufbar) angestoßen haben.

Einen Überblick über unsere Positionen, Events, pädagogischen Angebote sowie Informationsflyer rund um den Antisemitismusskandal auf der documenta finden Sie hier:
Mehr erfahren

*Im Mai 2022 ist die Journalistin des Fernsehsenders Al Jazeera, Shireen Abu Akleh, ums Leben gekommen. Nach Angaben des US-Außenministeriums waren wahrscheinlich Schüsse des israelischen Militärs die Ursache. Einer US-Untersuchung zufolge, die nach Angaben des Ministeriums die Erkenntnisse von israelischer und palästinensischer Seite zusammenfasst, sei die Reporterin jedoch nicht absichtlich getroffen worden.