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10. März 2024
von Sarah Stemmler


Der Film wird hochgelobt, wurde schon vielfach ausgezeichnet – und könnte heute mehrere Oscars gewinnen. Zu Recht, findet unsere Redakteurin Sarah Stemmler, denn The Zone of Interest geht neue Wege in der filmischen Aufarbeitung des Holocaust.  

Filme als Teil der Erinnerungskultur  

Wie wir uns an den Holocaust und den Nationalsozialismus erinnern, wird auch durch Spielfilme und Serien geprägt. Als 1979 die US-amerikanische Serie Holocaust ausgestrahlt wurde, saßen rund 15 Millionen Deutsche vor dem Fernseher – und befassten sich danach verstärkt mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Als 1993 Schindlers Liste in die Kinos kam, führte das zu einem gesteigerten Interesse an den osteuropäischen Orten der NS-Verbrechen. Und Der Untergang, ein deutscher Film über die letzten Tage der NS-Führungsriege, löste eine Debatte darüber aus, wie menschlich Nazis dargestellt werden sollten. The Zone of Interest ist ein Film, der sich ebenfalls auf unsere Art zu Erinnern auswirkt – und der zu Recht mit vielem bricht, was wir von Filmen über den NS gewohnt sind. 


Keine Identifikationsfiguren 

Meistens werden Filme über den Holocaust aus der Perspektive der Verfolgten erzählt, oder aus der Perspektive einer Person, die nichts von dem Menschheitsverbrechen ahnt und erst nach und nach herausfindet, was vor sich geht. Der Vorteil für die Zuschauer*innen: Sie können sich mit einem moralisch intakten Charakter identifizieren und sein Entsetzen über die Massenmorde teilen. Sind Nazis die Hauptfiguren, gibt es ein Identifikationsproblem: Man kann nicht mit den MörderIinnen mitfühlen. Trotzdem geht es in The Zone of Interest um das Leben von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß und seiner Familie – die Opfer der Nazis werden nicht gezeigt, kein einziges Mal blickt man hinter die Mauern des Vernichtungslagers. Das ist eine Herausforderung für das Publikum.


Banalität des Bösen 

The Zone of Interest bietet den Zuschauenden keine Identifikationsfiguren und erschwert es so, sich moralisch von den Tätern abzugrenzen. Sie werden in ihrer ganzen Banalität gezeigt: Höß’ Frau Hedwig hegt einen blühenden Garten direkt an den Mauern von Auschwitz und will Rosen wachsen lassen, „damit man das nicht mehr so sieht“. Vor dem Spiegel probiert sie einen Mantel an, der einer jüdischen Inhaftierten gestohlen wurde, ihre Blumen düngt sie mit Asche aus den Hochöfen der Gaskammern. Höß selbst geht täglich ins Todeslager, kommt mit blutigen Stiefeln zurück und liest dann seinen Töchtern eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sie sind so sehr von ihrer menschenfeindlichen Ideologie überzeugt, dass sie das Leid der Anderen völlig ausblenden können.


Omnipräsenz der Gewalt 

Obwohl man es nicht sieht, ist das Morden im Todeslager omnipräsent: Über die Tonspur hört man fast durchgehend den Lärm von Auschwitz. Das Rattern ankommender Deportationszüge, das Wummern der Hochöfen, Schüsse, Schreie. Dass die Geräusche des Mordens trotz aller Ignoranz nicht wirkungslos bleiben, zeigt sich in einzelnen Szenen: Eine Tochter der Familie Höß geistert jede Nacht durchs Haus, der älteste Sohn quält seinen kleinen Bruder, die Großmutter bricht ihren Besuch überstürzt ab. Auch als Zuschauer*in will man das Kino vielleicht gern früher verlassen – The Zone of Interest ist anstrengend und hat etwas Abstoßendes.  


Kein pädagogischer Film 

Das bürgerliche Leben an den Mauern des Todeslagers wirft viele Fragen auf. Eine davon: Wie ideologisch überzeugt und auf den eigenen Vorteil bedacht muss man sein, um das Leid der Anderen nicht mehr wahrzunehmen? Solche Fragen kommen allerdings vor allem dann auf, wenn man schon viel über den Holocaust und den Nationalsozialismus weiß. Ohne ausreichendes Vorwissen bleiben viele Szenen unverständlich - etwa jene, in der ein polnisches Mädchen nachts dort Äpfel versteckt, wo die KZ-Insass*innen Zwangsarbeit verrichten müssen. Eine Schulklasse sollte man also nicht in den Film schicken, ohne ihn intensiv vor- und nachzubereiten. The Zone of Interest ist kein „Pflichtprogramm“ – aber ein innovativer Film mit dem Potenzial, seine Zuschauer*innen zum Nachdenken über Täterschaft und Ignoranz anzuregen.  

Die Quellenangaben zu unserem Beitrag finden Sie hier.  


Ein Beitrag aus der Reihe „(Un)hyped“ der Bildungsstätte Anne Frank. 

Im Mai 2023 starteten wir unsere neue Reihe „(Un)hyped“. Dabei wollen wir in regelmäßigen Abständen Filme, Serien, Bücher, Games, Genres und andere popkulturell relevante Formate kritisch unter die Lupe nehmen und in Hinblick auf unsere Kernthemen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit untersuchen. Welcher Film ist gut gealtert – welcher schlecht? Und welche Serie ist so problematisch, dass sie vielleicht einfach gecancelt werden sollte? Unterschiedliche Kolleg*innen der Bildungsstätte teilen ihre Perspektiven.