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„Tag der Befreiung“? Längst nicht für alle!
Wie wir über den 8. Mai sprechen sollten
8. Mai 2024
von Sarah Stemmler
Niederlage oder Befreiung?
Nach Kriegsende wurde in Westdeutschland das Leid der Opfer des Nationalsozialismus verdrängt. Stattdessen stand das Leid der Deutschen im Vordergrund: Man erlebte den 8. Mai als militärische Niederlage, an die man sich nicht erinnern wollte. Das Gedenken wurde in erster Linie von Opferverbänden hochgehalten. Anders sah es in der DDR aus – dort feierte man den 8. Mai bereits 1950 als „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“. So grenzte sich die DDR vom Nationalsozialismus ab und rechnete sich selbst der Gruppe der Verfolgten zu. Gewissermaßen sahen sich beide deutsche Staaten als Opfer: entweder als Opfer des Krieges oder als Opfer des Faschismus.
„Erlösung durch Erinnerung“
Der 40. Jahrestag des Kriegsendes markiert einen Wendepunkt in der Erinnerungskultur markiert. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt anlässlich des Jubiläums eine Rede, in der er die Kapitulation zur Befreiung auch für die BRD umdeutete. Von Weizsäcker sagte, alle seien befreit worden vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und versprach, „das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Diese Deutung setzte sich nach der Vereinigung von DDR und BRD in der gesamten Bundesrepublik durch – und wirkt bis heute erinnerungskulturell nach. Dabei ist die Behauptung, „alle“ seien befreit worden, historisch falsch und stark vereinfachend.
Wer befreit wurde
Der Großteil der Deutschen fühlte sich 1945 nicht vom Nationalsozialismus befreit – sie hatten ihn entweder unterstützt, von ihm profitiert oder ihn zumindest durch Untätigkeit geduldet. Sie waren besiegt, vielleicht beschämt, aber wohl kaum befreit. Indem vom „Tag der Befreiung“ gesprochen wird, rechnet man die Mehrheit der Deutschen zu Unrecht den Opfern zu.
Gojnormativer Blick
Dass der Großteil hinter dem NS-Regime stand, rückt so in den Hintergrund. Die Autorinnen Vivien Laumann und Judith Coffey kritisieren diesen Blick auf die Geschichte als „gojnormativ“, also als Perspektive, die Jüdinnen_Juden nicht mitdenkt und sie indirekt ausschließt. Auch gerät so aus dem Blick, dass Deutschland keineswegs vollständig vom Nationalsozialismus befreit wurde – nicht nur, dass viele Täter*innen im Nachkriegsdeutschland wichtige Positionen besetzten, auch die Nazi-Ideologie bestand in Teilen fort.
Schuldabwehr
Die Rede vom „Tag der Befreiung“ dient so auch der Schuldabwehr. Statt sich mit den Taten der eigenen Vorfahren auseinanderzusetzen, identifizieren sich viele sich mit der Opferperspektive. So kommt es zu dem Glauben, die deutsche Dominanzgesellschaft sei auch Opfer des Krieges und einer kleinen Gruppe „echter“ Täter*innen gewesen. Aktuellen Studien zufolge glauben knapp zwei Drittel der jungen Erwachsenen in Deutschland, dass unter ihren Vorfahren keine Täter*innen gewesen seien. Diese Prozentzahl wächst übrigens seit Jahren: Je länger die NS-Zeit zurückliegt, umso mehr sind von der Unschuld ihrer Vorfahren überzeugt.
Also eine Niederlage?
Die Frage, welche Alternativen es zum „Tag der Befreiung“ gibt, ist schwer zu beantworten. Theoretisch könnte man vom „Tag der Niederlage“ sprechen – allerdings nimmt man damit auch die Perspektive der Dominanzgesellschaft nach dem Kriegsende ein. Heute versuchen Akteur*innen der extremen Rechten, diese Sichtweise zu rehabilitieren. Alice Weidel (AfD) erklärte etwa 2023, dass sie den 8. Mai nicht feiern würde, weil er eine Niederlage gewesen sei. Solche Argumentationen führen dann meist schnell zu Forderungen nach einem Schlussstrich oder einem neuen Nationalstolz – eine Steilvorlage für rechten Geschichtsrevisionismus.
Worum es eigentlich gehen sollte
Einen einheitlichen Begriff zu finden, der nicht ausgenutzt werden kann, ist schwierig. Man könnte zum Beispiel vom „Tag des Sieges über den deutschen Faschismus“ sprechen, wie die Journalistin Anastasia Tikhomirova schreibt. So wäre die Perspektive auf den Tag eindeutig benannt. Viel wichtiger als ein eindeutiger Begriff ist es allerdings, sich kritisch mit dem Gedenken und der deutschen Erinnerungskultur auseinanderzusetzen. Wem gedenken wir und auf welche Weise? Welche Perspektiven nehmen dabei wie viel Raum ein? Wem wird zugehört und wem nicht? Und was tun wir heute gegen den Fortbestand antisemitischer, rassistischer und menschenfeindlicher Ideologien? Der 8. Mai sollte eine Gelegenheit sein, auch über diese Fragen nachdenken.
Im Rahmen unserer neuen Reihe „Off the record“ nehmen wir unsere Erinnerungskultur unter die Lupe – und versuchen, die Personen, Ereignisse und Aspekte zu thematisieren, die nicht genug Raum bekommen.