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Am Mittwoch, dem 16. Februar 2022, beginnt vor dem Frankfurter Landesgericht der Prozess um die Drohschreiben des sogenannten „NSU 2.0“, bei dem ein 53-jähriger aus Berlin angeklagt wird. Die Bildungsstätte Anne Frank solidarisiert sich mit den Betroffenen und fordert von Politik und Behörden eine umfassende Aufklärung des NSU 2.0.

„Wir sehen dringend weiteren Aufklärungsbedarf im NSU 2.0.“, sagt Eva Berendsen, Leiterin der Kommunikation der Bildungsstätte. Es wäre fatal, wenn sich Politik und Behörden nun auf der These vom Einzeltäter ausruhen und den Fall zu den Akten legen – dafür seien noch zu viele Fragen offen, so Berendsen. „Selbst wenn man der Polizei Glauben schenkt, dass alles ein Versehen gewesen sein soll: Wie kann es sein, dass personenbezogene Daten, die in polizeilichen Datenbanken mit Sperrvermerk versehen sind, versehentlich in Umlauf kommen? Lässt sich eine aktive Zuarbeit vonseiten einzelner Beamt*innen wirklich ausschließen – zumal eine Polizistin Mitglied einer rechten Chatgruppe war?“

Berendsen fügt hinzu: „Das beschädigte Vertrauen in die Behörden wird sich nicht so einfach wieder herstellen lassen, auch wenn innerhalb der hessischen Polizei seitdem einige Reformen angestoßen wurden. Bis diese Fragen nicht geklärt sind, werden weder die kritischen Stimmen jener verstummen, die mit gutem Recht von rechten Netzwerken innerhalb der Behörden ausgehen müssen – noch werden sich die betroffenen Frauen wieder sicher fühlen können.“ In Zeiten, in denen sich ein deutlicher Anstieg rechter Gewalt gegen Schwarze Menschen, Jüdinnen und Juden und People of Color verzeichnen lässt, in denen Kommunalpolitiker*innen, ehrenamtlich Engagierte und Amtsträger*innen auch in Hessen von Rechtsextremen bedroht werden, müssten von Politik und Behörden deutliche Signale des Vertrauens kommen. „Ohne die umfassende Aufklärung des NSU 2.0 kann das nicht glaubhaft gelingen.“

Angeklagter soll rassistische Drohschreiben verbreitet haben
Insgesamt 116 Drohschreiben mit rassistischen und frauenverachtenden Beschimpfungen und Morddrohungen soll der Angeklagte Alexander M. an ein Dutzend Betroffene, überwiegend politisch engagierte Frauen, im Zeitraum vom August 2018 bis März 2021 verschickt haben – per E-Mail sowie über kostenlose SMS- und Faxdienste. Allesamt unterzeichnet mit: „NSU 2.0“. Die Anklage wirft ihm in 67 Fällen Straftaten der Beleidigung, versuchten Nötigung, Volksverhetzung, den Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie Verstoß gegen das Waffengesetz vor. Das erste Hassschreiben ging an die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız, die im NSU-Prozess Angehörige des Mordopfers Enver Şimşek vertrat. Es folgten weitere wüste Drohbriefe an öffentliche Personen, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren, wie z. B. die Politikerin Janine Wissler von der Linkspartei, die Kabarettistin Idil Baydar und die Journalist*in und Autor*in Hengameh Yaghoobifarah, um nur einige zu nennen.
Der 53-jährige, mehrfach vorbestrafte Berliner wurde im Mai 2021 festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft.

Welche Rolle spielten Behörden und die Polizei bei dem Fall?
Von der Verhandlung, die zunächst auf 14 Prozesstage angesetzt ist, erwartet die Bildungsstätte Anne Frank eine umfassende Aufarbeitung der Handlungsumstände – und dabei insbesondere eine lückenlose Aufklärung darüber, welche Personen konkret als Mitglieder oder Unterstützer*innen des „NSU 2.0“ gehandelt haben. Denn was in diesem Fall besonders stutzig macht, ist gerade der Umstand, dass die Drohbriefe an Başay-Yıldız persönliche Daten enthielten, die zuvor auf einem Frankfurter Polizeirevier abgefragt wurden. Der Verfasser gelangte außerdem später an die neue Anschrift der Anwältin, die von den Behörden ausdrücklich geheim gehalten werden sollte. Auch vor dem Versand der Drohschreiben an Janine Wissler und Idil Baydar wurden ihre Daten über dienstliche Zugänge auf Polizeicomputern abgerufen, ganz ohne dienstlichen Anlass.

Polizeibeamt*innen im Verdacht den NSU 2.0 zu unterstützen
Diese heiklen Umstände führten dazu, dass in der Berichterstattung und bei den Betroffenen der Verdacht aufkam, der NSU 2.0 könnte Helfer*innen bei der Polizei haben. Tatsächlich laufen bis heute Ermittlungen gegen mehrere Beamte aus dem Frankfurter Revier, in deren Zuge eine rechtsextreme Chatgruppe der Beamt*innen aufgeflogen war. Ihr gehörte eine Polizistin an, die ohne dienstlichen Anlass im Computer private Daten von Seda Basay-Yildiz und deren Familie abfragte.
Die Ermittler*innen des Verfahrens glauben jedoch nicht, dass Polizist*innen wissentlich als Unterstützer*innen in diesem Fall involviert waren. Sie gehen davon aus, dass der Angeklagte die Beamt*innen vielmehr ausgetrickst haben soll, indem er sich am Telefon als Bediensteter von offiziellen Behörden ausgab und so an die Daten gelangte.

Was halten Betroffene von der Einzeltätertheorie?
Am Montag, kurz vor dem Prozessauftakt veröffentlichten Betroffene wie Seda Başay-Yıldız, Janine Wissler, Idil Baydar und Hengameh Yaghoobifara gemeinsam eine Stellungnahme, in der sie deutliche Kritik an der Staatsanwaltschaft und Polizei üben: „Für uns ist es ein Skandal, dass die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Einzeltäter geführt wurden. […] Der NSU 2.0-Komplex ist mit der Festnahme des Angeklagten nicht aufgeklärt. Es gibt für uns zwingende Hinweise auf mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen.“ Die Betroffenen verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass am 2. August 2018 die Daten von Basay-Yildiz insgesamt 17-mal von drei verschiedenen polizeilichen Datenbanken abgerufen wurden, auch hier ganz ohne dienstlichen Anlass. Bereits 90 Minuten nach der Abfrage wurden sie in einem Drohfax verwendet.

Die Betroffenen drängen nun nachdrücklich darauf, zu klären, wie der Angeklagte die von den Polizeicomputern stammenden Daten erlangt hat, ob es z. B. im Darknet Verbindungen zu Polizeibeamt*innen gegeben hat und ob grundsätzlich Polizeibeamt*innen an den Drohungen beteiligt gewesen seien. Ihr trauriges Fazit: „In Deutschland existiert eine militante, bewaffnete und analog und digital vernetzte rechte Szene, die vielfältige Verbindungen in die Sicherheitsbehörden hat. Solange Strafverfolgungsbehörden und Justiz ihre Ermittlungen nur auf Einzeltäter konzentrieren, werden diese Netzwerke nicht bekämpft und die Betroffenen nicht geschützt werden.“