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„Wer hat das Versteck verraten? Wie und warum wurden die Versteckten verhaftet und deportiert?“ In unserer Arbeit zu Anne Frank und ihrem Tagebuch sind diese Fragen immer stark präsent - auch 78 Jahre nach ihrer Entdeckung. 

Durch die neuen Ermittlungsergebnisse der Gruppe „Cold Case Diary“ unter Leitung des ehemaligen FBI-Agenten Vince Pankoke ist die Frage nach einem möglichen Verrat wieder präsenter geworden. Eine Bewertung der aktuellen Untersuchung steht uns nicht zu, doch stand der Verdacht eines Verrats schon lange im Raum: Viele Namen wurden genannt, und es gab auch Prozesse gegen einzelne Verdächtige. Bestätigt werden konnte keine der Vermutungen. Dass die Liste der Verdächtigen lange ist, ist nicht überraschend, bedenkt man, dass die Versteckten über zwei Jahre im Hinterhaus gelebt haben, was vermutlich viele Menschen bemerkt haben. 

Einer der Hauptverdächtigen, der auch von Anne Frank im Tagebuch erwähnt wird, ist  der Lagerarbeiter van Maaren: 

„Noch etwas trägt nicht zu unserer Erheiterung bei, der Lagerarbeiter van Maaren ist misstrauisch geworden, was das Hintergebäude betrifft. Es muss jemandem, der ein bisschen Gehirn hat, wohl auffallen, dass Miep sagt, sie geht ins Laboratorium, Bep ins Archiv, Kleiman zum Opekta-Vorrat. Und Kugler behauptet, das Hinterhaus gehöre nicht zu dem Gebäude, sondern zum Nachbarhaus. Es könnte uns egal sein, was Herr van Maaren von der Sache hält, wenn er nicht als unzuverlässig bekannt und sehr neugierig wäre, sodass er sich nicht mit ein paar leeren Worten abspeisen lässt.“ 
16.September 1943 

Die Verfahren gegen ihn wurden aus Mangel an Beweisen 1948 und 1964 eingestellt. Erst 2016 kam das Anne-Frank-Haus mit einer eigenen Recherche zu der Vermutung, dass es vielleicht kein Verrat war, sondern das Versteck bei einer Razzia wegen illegalisiertem Handel zufällig aufgeflogen ist.  

Einen groben Überblick über die Vermutungen und Verdächtigen findet sich auf der Seite des Anne-Frank-Hauses: 
Wurde Anne Frank verraten? | Anne Frank Haus 

Doch warum beschäftigt die Frage nach wie vor so viele Menschen? Es gibt natürlich ein Bedürfnis, Schuldige dafür zu finden, dass Anne Frank, ihre Familie, die Familie van Pels und Fritz Pfeffer entdeckt, verhaftet und bis auf Otto Frank allesamt ermordet wurden. Sollte sich der Verrat bewahrheiten, könnte jedoch keiner Person ein Gerichtsprozess gemacht werden, da die Verdächtigen nicht mehr am Leben sind.  

Was die Geschichte der Versteckten exemplarisch aufzeigt, ist vor allem die perfide Logik der Nationalsozialisten, alle, unter Umständen eben auch jüdische Personen selbst, zu Tätern werden zu lassen. Aus einer pädagogischen Perspektive wird deutlich, worum es in der historischen Bildungsarbeit gehen muss: das System des Nationalsozialismus sichtbar zu machen, das die Täterschaft von Individuen begründete. So wichtig die Diskussion einzelner Verbrechen ist, darf sie nicht der Externalisierung dienen, also der bequemen Auslagerung von Schuld auf „böse“ Einzelpersonen. Stattdessen sollte stets auch das Verständnis dafür gestärkt werden, dass es eine ganze Gesellschaft war, die zur Verfolgung und Ermordungen von Millionen Menschen beigetragen hat.