Loading...

Am 16. Februar 2022 begann vor dem Frankfurter Landgericht der Prozess im Fall der Drohschreiben des sogenannten „NSU 2.0“.

Ursprünglich waren für die Hauptversammlung 14 Prozesstage bis Ende April angesetzt – bereits zwei weitere Monate sind nunmehr vergangen und es ist aktuell unklar, wie lange noch weiter verhandelt werden wird. Nachdem der letzte Termin verschoben wurde, geht es jetzt am 23. Juni weiter. Zeit, eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen.

Der Angeklagte im Prozess machte gleich zu Beginn unmissverständlich deutlich, was er von dem hielt, was ihm nunmehr bevorstand: Mit demonstrativ überkreuzten Armen und ausgestreckten Mittelfingern präsentierte er sich den Anwesenden. Was Alexander M. vorgeworfen wird, ist in puncto Deutlichkeit und Feindseligkeit mindestens genauso unmissverständlich.

Zwischen August 2018 und März 2021 soll er unter Verwendung des Kürzels „NSU 2.0“ – ein eindeutiger Verweis auf den rechtsterroristischen NSU – 116 Drohschreiben per E-Mail, Fax oder SMS an 24 Betroffene versendet haben. Seine Hassbotschaften richteten sich überwiegend an öffentliche Personen, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren wie z.B. die Politikerin Janine Wissler, die Kabarettistin Idil Baydar, Journalist*in und Autor*in Hengameh Yaghoobifarah oder die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und ihre Familie, die massiv und mit dem Tode bedroht wurden.

Es stellen sich viele Fragen in diesem Fall, zwei davon sind nach wie vor besonders präsent: Waren auch Beamt*innen der hessischen Polizei an diesen Vorgängen beteiligt? Und gab es oder gibt es rechte Netzwerke in den Behörden, die Alexander M. aktiv unterstützten? Immerhin musste dieser auf irgendeine Weise an gesperrte Daten und Adressen gelangen. Zum Prozessauftakt war die Staatsanwaltschaft davon überzeugt, dass Alexander M. sich die Daten erschlichen haben musste, also als Einzeltäter gehandelt hatte. Eine These, die im Verlauf der letzten vier Monate kaum erhärtet werden konnte.

Im Gegenteil, es ist erwiesen, dass unter anderem die Daten von Seda Başay-Yıldız vom 1. Polizeirevier in der Frankfurter Innenstadt aus abgerufen wurden. Mehrere polizeiinterne Chat-Gruppen wurden entdeckt, in welchen rechtsradikale und menschenfeindliche Inhalte geteilt wurden. Der hessische Innenminister sieht darin bis heute kein strukturelles Problem innerhalb der hessischen Polizei. Mit einem Tatverdächtigen, der weder Polizist ist noch in Hessen lebt, scheint es für ihn erst recht keinen Anlass zu geben, die Zustände innerhalb der Landesbehörden auch nur im Ansatz infrage zu stellen.

Die Betroffenen sehen das vollkommen anders. Als die Kabarettistin Idil Baydar Anfang Mai im Prozess aussagte, machte sie unmissverständlich klar, den Institutionen nicht mehr vertrauen zu können – denn auch ihre Daten waren auf Computern der hessischen Polizei abgerufen worden.

Inzwischen haben die Aussagen mehrerer Zeug*innen vor Gericht die Erzählung von Alexander M. als Einzeltäter zumindest weiter ins Wanken gebracht. So erklärte ein Beamter des LKA Mitte Mai, dass es zwar keine eindeutigen Beweise, aber doch Indizien dafür gäbe, dass Polizist*innen an der Abfassung und dem Versenden der Drohbotschaften beteiligt gewesen sein mussten. Eines dieser Indizien seien falsch eingetragene Dienstzeiten, die möglicherweise als Alibi gelten sollten, um unerlaubte Datenabfragen zu vertuschen. Die Nebenklage im Prozess ist sich damit auch sicher, dass ein Polizist das erste Drohfax an Seda Başay-Yıldız geschickt haben muss. Die Staatsanwaltschaft wiederum hält an ihrer Einzeltäterthese fest.