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05. September 2024
von Anette John und Céline Wendelgaß


Unsere Kolleginnen Céline Wendelgaß und Anette John haben sich „Treasure“ angeschaut und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Darstellung des transgenerationalen Traumas gelegt.

„Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Vater-Tochter-Reise: Die 36-jährige amerikanische Journalistin Ruth (Lena Dunham) begibt sich 1991 in Begleitung ihres Vaters Edek (Stephen Fry) auf einen Roadtrip durch Polen, um mehr über ihre jüdische Familienhistorie zu erfahren. Dabei wird deutlich, wie sehr die traumatischen Erfahrungen während des Holocaust nicht nur in Edek nachhallen, sondern auch in seiner Tochter Ruth.

Beginnen wir mit einer kurzen Begriffserklärung. 

Was versteht man unter einem transgenerationalen Trauma? 

Wenn ein traumatisches Ereignis (z.B. Krieg, Missbrauch) sich nicht nur auf die Person auswirkt, die es tatsächlich erlebt hat – z.B. in Form von Depressionen oder Angstzuständen – sondern auch auf die nachfolgenden Generationen, spricht man vom transgenerationalen Trauma. In diesem Fall wird das nicht aufgearbeitete Trauma (also die belastende psychische und/oder physische Verletzung) unbewusst durch bestimmte Verhaltensweisen oder Erziehungsstile durch die Eltern oder Großeltern an die Kinder und Enkel weitergegeben. Das kann auch dann passieren, wenn das Erlebte gar nicht thematisiert wird, denn oftmals spüren Kinder, dass etwas Wichtiges nicht besprochen wird und schweigen selbst, um ihre Eltern nicht zu belasten.

Holocaust spielt eine wichtige Rolle in der Forschung

Die Forschung zum transgenerationalen Trauma intensivierte sich in den 1960er-Jahren als Psycholog*innen und Wissenschaftler*innen bemerkten, dass Kinder von Shoah-Überlebenden oft mit ähnlichen psychischen Problemen zu kämpfen hatten wie ihre Eltern, auch wenn sie die Verfolgung durch die Nazis nicht selbst erlebt haben.

„Treasure“ – Eine Reise in die Vergangenheit

Die Reise des zunächst betont vergnügten Vaters Edek und seiner neurotischen Tochter Ruth führt im Film von Warschau über Lodz (wo sie das ehemalige Wohnhaus von Edek aufsuchen) bis nach Krakau und schließlich auch in das ehemalige KZ Auschwitz-Birkenau, in dem Edeks Familie ermordet wurde. Während der Reise werden Familiengeheimnisse gelüftet, verdrängte Wunden reißen auf und das Schweigen zwischen dem Vater-Tochter-Duo wird aufgebrochen.  


Trailer zum Film „Treasure“ jetzt anschauen!

TREASURE | Trailer deutsch | Ab 12.09. im Kino! (youtube.com)

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Wie zeigt sich das transgenerationale Trauma bei Ruth?

Ruths Eltern sind jüdische Holocaust-Überlebende, die in Auschwitz interniert waren. Die Mutter Rooshka ist vor einem Jahr verstorben. Wie Ruth ihrem Vater gegenüber offenbart, wusste sie von dem Moment ihrer Geburt an, dass ihren Eltern etwas Furchtbares passiert ist, auch wenn sie nicht über ihre Erlebnisse sprachen. Bei Ruth, die als Kind mitbekam, wie ihre Mutter schreiend aus Albträumen erwachte, äußert sich das transgenerationale Trauma auf unterschiedliche Art.

Zum einen beschäftigt Ruth sich nahezu obsessiv mit Holocaust-Literatur, um die Lücken, die durch das Schweigen der Eltern entstanden sind, zu füllen. Zum anderen träumt sie nachts davon, dass Läuse über ihren Körper krabbeln – eine Erfahrung, die nicht sie selbst, sondern ihre Eltern im KZ erlebt haben. Zudem wird Ruth als Person mit Bindungsängsten, Hang zur Selbstverletzung und einem gestörten Essverhalten dargestellt. Sie initiiert die Reise nach Polen, um besser zu verstehen, wo sie herkommt und was ihren Eltern widerfahren ist. Sie versucht somit das Trauma, dass sich auch auf sie übertragen hat, aufzuarbeiten.

„Kinder von Überlebenden sahen sich von Geheimnissen umgeben“

Lily Brett beschreibt das Trauma in der Literaturvoralge wie folgt: „Die meisten Kinder von Überlebenden wussten so gut wie gar nichts über die Vergangenheit ihrer Eltern. Die Vergangenheit vor dem Krieg und während des Krieges. Sie mussten erraten, was geschehen war. Die einfachsten Informationen waren nur schwierig zu erhalten. Alles war schmerzlich. Alles war verletzend. Belastet. Kinder von Überlebenden sahen sich von Geheimnissen umgeben. Die Löcher der Vergangenheit ihrer Eltern punktierten und perforierten die Kinder. Sie versahen sie mit Rissen und Brüchen und Wunden, mit eigenen Hohlstellen und Löchern.“

Dr. Angela Moré, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover und Gruppen(lehr)analytikerin erklärt zum transgenerationalen Trauma: „Bei vielen Nachkommen, zum Beispiel von Holocaustüberlebenden, sind die Signale, die die Eltern von sich geben, so fein, dass das Kind relativ präzise Bilder entwickeln kann. Es lässt sich an vielen Fallgeschichten beobachten, dass die Kinder etwas reinszenieren und sich in die Rolle der Eltern begeben, um diese zu entlasten und auch besser zu verstehen, was tatsächlich passiert ist. Oft haben die Eltern dabei nicht von ihrem Trauma gesprochen. Wenn sie doch davon sprechen, erzählen sie nicht zusammenhängend, da das bei Traumatisierung in der Regel nicht geht – es sei denn, das Trauma konnte verarbeitet und integriert werden. Stattdessen erleben die Eltern sogenannte Flashbacks, sie finden sich plötzlich in der traumatischen Situation wieder, fangen auf einmal an panisch zu reagieren oder Angstzustände oder Fluchtimpulse zu entwickeln. Das Kind beobachtet dieses Verhalten und versucht zu beruhigen und Dinge anzubieten, die die Angst mindern. Gleichzeitig nimmt das Kind aber auch einen Teil dieser Angst auf.“

Tätowierung der Häftlingsnummer als Sinnbild für vererbtes Trauma

In schlaflosen Nächten tut Ruth zudem etwas, was zunächst verstörend und provokant wirken kann: Sie tätowiert sich selbst eine KZ-Häftlingsnummer auf ihren Körper. Eine Szene des Films, in der das transgenerationale Trauma versinnbildlicht wird.

KZ-Nummer als Tattoo: Erinnerung oder Provokation?

Regisseurin Julia von Heinz hat sich bei diesem Detail an einer realen Bewegung orientiert, bei der einige Nachfahren von Holocaust-Überlebenden sich die KZ-Häftlingsnummern ihrer Eltern oder Großeltern auf den Körper tätowieren lassen. Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie die Menschen – eine intime Erinnerung an die Großeltern, Ausdruck des kollektiven Traumas, Zeichen für Widerstand und Überleben, Symbol gegen das Vergessen. Erstmals in die Öffentlichkeit gerückt wurde das Thema 2012 mit der Dokumentation „Numbered“ von Dana Doron und Uriel Sinai.
Die Kennzeichnung der Häftlinge im KZ mit einer Nummer ersetzte den Namen und war auf der Häftlingskleidung angebracht. Nur in Auschwitz wurde die Nummer auch eintätowiert.
 

Künstlerische Freiheit bei der Buchverfilmung

Die Szene, die Ruth beim Tätowieren zeigt, ist im Buch so nicht enthalten. Auch an anderen Stellen hat sich Julia von Heinz erlaubt von der Literaturvorlage abzuweichen. So führt Ruth im Buch z.B. immer wieder imaginäre Gespräche mit Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, die im Film jedoch nicht vorkommen. Ruth ist im Buch älter (43) und ist Inhaberin einer kleinen Agentur Auch das Ende des Buches wurde im Film etwas abgewandelt.

Julia von Heinz erklärt in einem Interview, dass es ihr nicht darum ging, die Figuren oder die Geschichte eins zu eins abzubilden, sondern die Essenz und die Tonalität der literarischen Vorlage zu erhalten. Dabei stand sie kontinuierlich im Kontakt mit der Autorin Lily Brett, die jede einzelne Drehbuchfassung zu lesen bekommen hat und ausführlich mit Julia von Heinz und ihrem Ehemann John Quester, der das Drehbuch gemeinsam mit ihr verfasst hat, im Gespräch war.

Eignet sich der Film für den Einsatz im pädagogischen Kontext?

Da der Film viel Wissen zur Shoah und ihren Nachwirkungen in Familien voraussetzt, eignet er sich insbesondere für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik. Mit einer geeigneten Vor- und Nachbereitung kann er jedoch sehr gut im pädagogischen Raum eingesetzt werden. Der Film bietet zudem die Chance, die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, welches in Bildungskontexten bisher wenig Beachtung findet, nämlich die Frage: Wie haben sich die Wunden der Überlebenden auf ihre Familien übertragen? In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig, dass sowohl die Geschichte der Shoah als auch das transgenerationale Trauma im Rahmen der Filmsichtung bearbeitet werden. Zudem sollte deutlich gemacht werden, dass der Umgang von Edek und Ruth mit dem Trauma nur einer von vielen Wegen ist und nicht stellvertretend für alle Betroffenen steht.

Der Film „Treasure“ läuft am 12. September 2024 in den deutschen Kinos an. Seine Premiere feierte der Film im Februar 2024 auf der 74. Berlinale. 

Weitere Infos zum Film findet ihr hier https://treasure-derfilm.com/


Ein Beitrag aus der Reihe „(Un)hyped“ der Bildungsstätte Anne Frank. 

Im Mai 2023 starteten wir unsere neue Reihe „(Un)hyped“. Dabei wollen wir in regelmäßigen Abständen Filme, Serien, Bücher, Games, Genres und andere popkulturell relevante Formate kritisch unter die Lupe nehmen und in Hinblick auf unsere Kernthemen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit untersuchen. Welcher Film ist gut gealtert – welcher schlecht? Und welche Serie ist so problematisch, dass sie vielleicht einfach gecancelt werden sollte? Unterschiedliche Kolleg*innen der Bildungsstätte teilen ihre Perspektiven.


Quellen:

Brett, Lily: „Zu viele Männer“, Suhrkamp 2020, S. 183.
Presseheft zum Film „Treasure“ (Zitat von Julia von Heinz)
FR, 17. Januar 2019, KZ-Nummer als Tattoo
Deutschlandfunk Kultur, 3. Mai 2022, Transgenerationale Traumatisierung: Aus Wunden werden Narben
Zeit Online: Auschwitz-Gedenken: Tätowiertes Mahnmal
dasgehirn.info, 12. Mai 2024, Was ist ein transgenerationales Trauma?
Trailer zum Film „Numbers“
A Rabbit‘s Foot, 21. Februar 2024, Berlinale 2024, Julia von Heinz on Treasure – “Crying is the greatest gift”