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1. März 2022


Alexander Stoler, Jahrgang 1991, ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Offenbach und hat ukrainische Wurzeln. Bis vor kurzem organisierte er in der Ukraine deutsch-ukrainisch-jüdische Fußball-Jugendturniere. Wir sprachen mit ihm über jüdisches Leben und Antisemitismus in der Ukraine.

Herr Stoler, wie geht es Ihnen im Moment?

Nicht besonders! Ich bin rund um die Uhr mit dem Konflikt beschäftigt, telefoniere viel, und versuche, Medikamente und andere Hilfsgüter zu organisieren. Ein großer Teil meiner Familie lebt dort, einige sind auch an der Front. Wir haben bisher noch nichts von ihnen gehört. 

Welche Bedeutung hat das jüdische Leben in der Ukraine?

Die jüdische Bevölkerung der Ukraine ist vergleichsweise groß, Schätzungen gehen von etwa 200.000 Personen aus. Es gibt jüdische Gemeinden in allen größeren und kleineren Städten; die größte ist Dnipro mit ca. 80.000 Personen. Die meisten fühlen sich als Ukrainer*innen, die Identifikation mit dem Land ist sehr groß. Es ist auch das Land mit den meisten Holocaust-Überlebenden außerhalb Israels. 

Welche Rolle spielt Antisemitismus in der Ukraine?

Den gibt es natürlich, wie in jedem Land. Ich persönlich habe den Eindruck, dass er weniger stark verbreitet ist als zum Beispiel in Deutschland: Umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen sind nicht üblich, Synagogen können frei betreten werden. Der Präsident selbst ist Jude, mit Vorfahren, die im Holocaust umgekommen sind; seine Identität hat er immer stolz und offen gelebt. Antisemitische Fan-Gesänge, wie sie manchmal in ukrainischen Fußballstadien zu hören sind, habe ich auch in Russland gehört, und zwar häufiger. 

Welche Rolle spielt Antisemitismus im aktuellen Konflikt?

Putin hat seinen Überfall damit begründet, dass er die letzten Spuren des Faschismus in Europa beseitigen, das Land von Nazis und von Drogensüchtigen befreien wolle. Aber die große Mehrheit der Jüdinnen und Juden fühlt sich von der ukrainischen Regierung gar nicht bedroht. Nur ein Beispiel: Die israelische Airline El Al bot Jüdinnen und Juden Tausende kostenlose Flugtickets an, um das Land zu verlassen. Nur 73 Personen haben dieses Angebot wahrgenommen – eine Fluchtbewegung sieht anders aus! 

Wie geht es den jüdischen Gemeinden in Deutschland mit dem Konflikt?

Ich glaube, niemand hat sich vorgestellt, dass es einmal so weit kommen würde. Viele bereiten sich wahrscheinlich auf die Ankunft jüdischer Geflüchteter aus der Ukraine vor. Es gibt umfangreiche Spendenaktionen, die man unterstützen kann – und sollte! Ich würde mir wünschen, dass alle sehr sorgfältig prüfen, aus welchen Quellen sie ihre Nachrichten beziehen.