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Unsere Kolleginnen Anette John und Ruby Ode stellen die Graphic Novel vor und gehen der Frage nach, inwiefern Comics einen Beitrag zur heutigen Erinnerungsarbeit an die Shoah leisten können. 

Am 18. Oktober 2024 wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse der Deutsche Jugendliteraturpreis verliehen. In der Kategorie „Sachbuch“ ist die Graphic Novel „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ von der deutschen Künstlerin Barbara Yelin nominiert. Diese zeichnet behutsam und eindringlich den Lebensweg der jüdischen Shoah-Überlebenden Emmie Arbel nach, die als Kind ins KZ verschleppt wurde und deren Eltern und Großeltern im Holocaust ermordet wurden.   

Ein Buch, das aus einem Dialog entstanden ist 
Emmie Arbel spricht regelmäßig als Zeitzeugin in der Gedenkstätte des KZ Ravensbrück mit Jugendlichen. Dort traf sie 2019 auch erstmals auf Barbara Yelin anlässlich des Projektes „Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide and Human Rights Education“. Die beiden Frauen verabreden sich daraufhin über mehrere Jahre hinweg immer wieder zum virtuellen und persönlichen Dialog über Arbels Lebenserinnerungen – aus diesem Prozess ist die Graphic Novel hervorgegangen. Yelin sagte dazu in Deutschlandfunk Kultur: „Dieses Buch ist ein Buch, das nur aus einer Begegnung entstehen konnte. Nur durch diese Zeit, die wir miteinander sprechen konnten, in der […] dieses Leben erzählt werden konnte, in der Emmie aber auch abstecken konnte, […] was kann erzählt werden, was möchte sie erzählt haben und was auch nicht.“ 

Schwarz ist die Farbe der Erinnerung  
Was Yelin in der Graphic Novel besonders eindrucksvoll visualisiert, ist, wie Kindheitserinnerungen (insbesondere die eines traumatisierten „Child Survivors“) funktionieren – sie zeigt, dass sie weder chronologisch noch lückenlos sind. Auf die Frage hin, welche Farbe Erinnerungen haben, antwortet Arbel im Buch: „Schwarz“. Damit bringt sie nicht nur die Düsternis ihrer Kindheitserfahrungen zum Ausdruck, sondern auch die Lücken in ihrer Erinnerung. Yelin erläutert: „Man muss sich klarmachen, dass nicht alle traumatischen Erfahrungen abrufbar sind. Darum erzählen auch die Erinnerungslücken sehr viel.“  

Zur Darstellbarkeit der Shoah im Comic  
Dabei wirft das Buch in einer Szene indirekt auch eine inzwischen alte Frage auf: Kann man die Shoah im Comic abbilden? So erkundigt sich Yelin im Buch: „And do you think that a graphic novel is able to tell your memories, Emmie?” Woraufhin Arbel antwortet: „Hm, to be honest ... I’m not sure.” Doch das dokumentarische Buch beweist in seiner sensiblen und zurückgenommenen Darstellung, dass Graphic Novels sehr wohl der Lage sind, einen Zugang zu dem Thema zu schaffen und das das sogenannte Genre der „Holocaustcomics“, einen wichtigen Beitrag zur heutigen Erinnerungsarbeit leisten kann – insbesondere (aber nicht nur) für Kinder und Jugendliche. Inwiefern das gelingt, muss von Buch zu Buch entschieden werden.  

Zur Geschichte des Holocaust im Comic 
Doch wo liegen die Ursprünge des Genres? Die Anfänge fallen zeitlich etwa mit dem Beginn der Shoah zusammen: So schuf der jüdische Cartoonist Horst Rosenthal (1913-1942) beispielsweise als Gefangener des größten französischen Internierungslagers Camp de Gurs heimlich die illustrierte Bildserie „Mickey au camps de Gurs“ (1942), in der er mit Disneys Mickey Maus als Hauptfigur seine eigenen Lagererfahrungen satirisch aufgreift. Rosenthal wurde später in Auschwitz ermordet. Seine Geschichte erst 2014 publiziert. 

Die Bildergeschichte „La Bête est morte!“ (1944, „Die Bestie ist tot!“) von Edmond-François Calvos (1892–1957) erschien hingegen noch während des Zweiten Weltkriegs. Darin werden Nazis als uniformierte Wölfe dargestellt. Auf zwei Bildern wird die Deportation und Erschießung von Jüdinnen_Juden gezeigt. Der Historiker Tal Bruttmann sieht sie als „erste Erwähnung des Holocaust im Comic“. 

Comic „Maus“ von Art Spiegelmann  
Heute sind Comics, die sich mit der Shoah beschäftigen, längst kein Tabu mehr. Als 1989 der erste Teil von „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman in Deutschland erschien – der bis heute bekannteste Holocaustcomic – gab es jedoch viel Kritik und Diskussion um die Frage nach der Angemessenheit der Darstellung des Holocausts in Comics. Das gängige Vorurteil lautete: Comics verharmlosen und trivialisieren das NS-Grauen. Dabei spielten sicher unterschwellig abwertende Vorstellungen von Comics als „Schund“ und nicht als eigene Kunstform eine Rolle. 

„Maus“ war der erste Comic, der jemals den renommierten Pulitzerpreis bekam. Spiegelman erzählt darin die Geschichte seiner Eltern, die als polnische Juden das KZ Auschwitz überlebten und nach New York emigrierten. Dabei zeichnete er Jüdinnen_Juden metaphorisch als Mäuse, Deutsche als Katzen und Polen als Schweine.  „Auschwitz war schrecklich geschmacklos.“  
In einem Radiointerview erzählte Art Spiegelmann, dass ein deutscher Journalist ihn einmal fragte, ob ein Comic über Auschwitz nicht schrecklich geschmacklos sei. Er konterte mit der Antwort: „Nein. Ich denke, Auschwitz war schrecklich geschmacklos.“  

Comics als Rekonstruktion von Erinnerung 
Der Kulturwissenschaftler Martin Frenzel erklärt in einem Beitrag von 2014 zum Thema: „Häufig weisen Holocaustcomics biografische oder autobiografische Bezüge auf und sind damit nicht rein fiktional.“ Er erklärt, dass „Maus“ zeigt, was Holocaustcomics in der heutigen Zeit leisten können, in der es immer weniger Zeitzeug*innen gibt, nämlich die „eminent wichtige Rekonstruktion von Erinnerung mit ihrer Reflexion zu verbinden.“ Eine Aussage, die auch auf die Graphic Novel „Emmie Arbel“ zutrifft – eine Lektüre, die lange nachhallt.  Mehr über das Buch erfahren auf der Website des Reprodukt-Verlags.



Ein Beitrag aus der Reihe „(Un)hyped“ der Bildungsstätte Anne Frank. 

Im Mai 2023 starteten wir unsere neue Reihe „(Un)hyped“. Dabei wollen wir in regelmäßigen Abständen Filme, Serien, Bücher, Games, Genres und andere popkulturell relevante Formate kritisch unter die Lupe nehmen und in Hinblick auf unsere Kernthemen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit untersuchen. Welcher Film ist gut gealtert – welcher schlecht? Und welche Serie ist so problematisch, dass sie vielleicht einfach gecancelt werden sollte? Unterschiedliche Kolleg*innen der Bildungsstätte teilen ihre Perspektiven.