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Einige Bemerkungen zur aktuellen Lage

Infolge der Angriffe der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober auf die israelische Zivilbevölkerung beobachten wir in Deutschland eine zunehmend angespannte Situation mit gesellschaftlicher Sprengkraft. Nicht zu kaschieren sind die Gräben, die sich auftun, wenn es um die Palästinafrage und das Existenzrecht Israels geht. Konflikte äußern sich auf den Straßen und Plätzen, bei Demonstrationen, in den Kitas, Schulen und Horts, in Sportvereinen und jeglichen Orten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Mit besonderer Wucht in den Sozialen Medien.

Jüdinnen und Juden in Deutschland sind zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. Rassistische und muslimfeindliche Stimmungen werden verstärkt. Als Einrichtung, die sich dem Kampf sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen Rassismus verschrieben hat, versuchen wir seit nun zwei Wochen, Orientierung und Einordnungen zu geben. Angesichts der hartnäckigen Polarisierungen im Diskursfeld scheint uns unser Tun – wir wollen ehrlich sein – oft genug vergeblich, wie gegen die sprichwörtlichen Windmühlen.

Was läuft da schief?

Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wo bleibt der Aufschrei gegen Israelhass und Antisemitismus?

Innerhalb von 24 Stunden wurden in Israel über 1000 Zivilist*innen massakriert, Kinder enthauptet, Frauen vergewaltigt und unschuldige Menschen verschleppt. Die Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Gewalt, die Menschen in den Kibbuzim Beeri, Kfar Azza, Nir Oz und Re’im oder auf dem Musikfestival angetan wurde, hat in der langen Geschichte des Nahostkonflikts eine neue Dimension erreicht.  

Der Bundespräsident, die Bundesregierung und deutsche Spitzenpolitiker*innen haben den Terror als solchen verurteilt. Aber jenseits des offiziellen Politiktalks?

Aus unserer Sicht fallen die Reaktionen der breiten Bevölkerung auf diese Ereignisse von einem Ausmaß wie 9/11 oder den islamistischen Terroranschlägen in Paris zurückhaltend bis maßlos enttäuschend aus. Kein Vergleich zu den Solidaritätswellen nach dem Angriff auf die Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ – manche mögen sich erinnern: damals, als „Je suis Charlie“ mehrere Wochen bei Facebook und Twitter in den Profilbildern von einzelnen Nutzer*innen, aber auch schwergewichtigen Institutionen stand.

Eine ähnliche Bewegung erleben wir aktuell nicht. Stattdessen will man in Deutschland jetzt eine Debatte führen: Ohne reflexhaften Verweis auf die Gewalt des Staates Israel gegen die Palästinenser*innen kommt kaum ein Gespräch, kaum ein Social Media-Posting über den Terror der Hamas aus. Das kennt man von anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit so nicht. Eine Anerkennung der Verbrechen der Hamas auf israelische Zivilist*innen? Bekommt man in Deutschland nur einschränkend und mit einem hastig hinterhergeschobenen „aber …“. Wir müssen feststellen, dass es vielen sichtlich schwerfällt, empathisch mit den Opfern vom 7. Oktober sein. Das Mitgefühl wird im gleichen Atemzug mit Verweis auf den Umgang Israels mit den Palästinenser*innen wieder einkassiert. Wir müssen auch feststellen, dass es vielen sichtlich schwerfällt, sich glasklar für das Existenzrecht von Israel auszusprechen.

Wenn wir uns aber nicht auf den Minimalkonsens verständigen können, dass Israel als Staat existiert und ein Recht hat zu existieren, dass die dort lebenden Menschen ein Recht haben zu existieren, dass Jüdinnen_Juden ein Recht haben zu existieren und der Angriff mörderischer Gewalt auf Zivilist*innen als Terror anerkannt wird, dann müssen wir nicht erst mit kalten analytischen Begriffen wie „israelbezogener Antisemitismus“ hantieren, sondern es geht viel simpler: Dann hat die Gesellschaft ihren moralischen Kompass verloren.

Sind wir wirklich überrascht? In unserer politischen Bildungsarbeit haben wir tagtäglich mit den vielfältigen Formen von Antisemitismus zu tun. Dieser ist – man kann es angesichts der rassistischen Stimmungsmache gegen „muslimisch-migrantische Milieus“ nicht oft genug betonen – ein gesamtgesellschaftliches Problem und zeigt sich in allen gesellschaftlichen Milieus und sozialen Schichten. Auch unter Bildungsbürger*innen: Wenn der Fernseh-Philosoph Richard David Precht die aktuelle Situation in Israel zum Anlass nimmt, um völlig frei über orthodoxe Juden und Diamantenhandel zu assoziieren und damit alte antisemitische Stereotype bedient, dann bekommt man einen ganz guten Einblick, wie die Lage ist.  

Studien bestätigen zuverlässig, wie weit verbreitet der Antisemitismus mit Bezug auf Israel in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft ist. Die aktuelle Situation macht die soziologischen Frameworks vermutlich besonders plastisch. Überrascht sind wir nicht. Und dennoch erschüttert.

„The silence of our friends“ oder: Ist auf Linke überhaupt Verlass?

Israel ist ein Staat, in welchem Jüdinnen_Juden Schutz genießen. Und der für Jüdinnen_Juden weltweit ein Zufluchtsort vor Antisemitismus ist. Diese zentrale Bedeutung, die Israel auch für deutsche Jüdinnen und Juden nach den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah einnimmt, scheint auch bei einem nicht geringen Teil von Personen, die sich für links, progressiv und antifaschistisch halten, keine weitere Rolle zu spielen oder bewusst ausgeblendet zu werden.

Jenseits des konservativen Lagers muss man Personen, die sich glasklar und ohne Wenn und Aber für die Existenz von Israel aussprechen, schon fast mit der Lupe suchen. Kein Wunder, dass sich viele Jüdinnen_Juden in Deutschland in linken Zusammenhängen nicht willkommen fühlen. Im Kampf gegen Judenhass scheint auf diese Szenen kein Verlass.

Es gibt dieses Bonmot von Martin Luther King: „In the end, we will not remember the words of our enemies but the silence of our friends.“ Das Zitat kann man aktuell leider nur zu gut auf das fehlende Eintreten gegen Israelhass und Antisemitismus übertragen.

Der berühmte linke Intellektuelle Slavoj Žižek forderte in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse eine schleunige Kontextualisierung der Verbrechen ein (nach dem Motto: Sowas kommt von Sowas) – von echter Empathie mit den israelischen Opfern von Terror, die ohne Relativierung auskommt: keine Spur. Natürlich kann und soll man über den Nahostkonflikt und die Besatzung der Palästinensergebiete diskutieren. Aber es gibt historische Momente, die für sich stehen. Momente, in denen sich die Abgründe der Zivilisation zeigen. Ist da ein Innehalten angesichts der monströsen Verbrechen zu viel verlangt? Im Fall von israelischen Zivilist*innen offenbar schon. 

Mehr noch: Instagram und TikTok sind voll von Statements, in denen der Terror der Hamas als legitimer Befreiungskampf, als antikolonialer Widerstand gedeutet und gefeiert wird. Unerträglich die Bilder von den Demos, auf denen junge Aktivist*innen Motive von Fallschirmen in Stencil-Optik auf ihren Klamotten tragen. Antisemitische Terroristen aus der Luft als modisch-politisches Statement. „Free Gaza from German guilt“, so wurde dieser Tage auf einer Pro-Palästina-Demonstration in Berlin skandiert. Schuldabwehrantisemitismus par excellence. Die Straße blockierten junge, weiße, mehrheitsdeutsche Leute, die mit dem Slogan die Vorstellung zum Ausdruck brachten, Jüdinnen_Juden würden im Geheimen die Geschicke der Bundesrepublik kontrollieren und die Shoah für ihre perfiden Machenschaften nutzen. Hätten sie doch lieber geschwiegen. Es mag nicht so gemeint gewesen sein. Aber: Rechtsextreme hören sich kaum anders an, wenn sie Deutschland einen „Schuldkult“ unterstellen.

An jenem Wochenende, an dem die Terroristen in Israel eingefallen sind, wurde in Deutschland die weitgehend rechtsextreme AfD in zwei Bundesländern – Bayern und Hessen – zweitstärkste Kraft. In letzterem sind wir als Bildungsstätte zuhause.

Jüdinnen und Juden in Deutschland sind nicht alle reich und können sich nicht auf eine privatisierte Karibikinsel flüchten, wenn es hart auf hart kommt. Es sind übrigens auch nicht alle Jüdinnen und Juden in Deutschland weiß, auch in der jüdischen Community gibt es hybride Identitäten und vielfältige Backgrounds. Wohin können Jüdinnen und Juden gehen, wenn ihr Leben in Deutschland bedroht wird, wenn die Brandmauer weiter bröckelt und jene mehr und mehr Macht gewinnen, die für die Volksgemeinschaft eintreten? In Anlehnung an Hannah Arendt: Vielleicht auf den Mond

Muslimischer Antisemitismus – Rassismus und Muslimfeindlichkeit

Antisemitismus äußert sich in unterschiedlichen Milieus auf unterschiedliche Weise. Es ist wichtig, dass wir hier genau hinsehen und Probleme nicht wegwischen. Wie in linken Szenen, konservativen Kreisen oder unter Rechtsextremen artikuliert sich der Antisemitismus unter Muslim*innen und in arabisch-muslimisch geprägten Milieus auf spezifische Weise – das Ressentiment bis hin zum Hass auf Israel ist hier ein identitätsstiftendes Moment. Das zeigt sich aktuell bei vielen Pro-Palästina-Demos, auf denen in Slogans wie „From the river to the sea“ gegen die Existenz des Staates Israel agitiert wird. Es zeigt sich mit besonderer Wucht im Netz, wo Israelhass und Hamas-Propaganda auch von vielen arabisch-muslimischen Influencer*innen, Creator*innen und Accounts verbreitet wird. Für die Bildungs- und Präventionsarbeit ist es wichtig, dass wir hier genau hinsehen, um jede Form von Antisemitismus wirksam bekämpfen zu können.

Wer jetzt aber Antisemitismus pauschal als Problem nur von Muslim*innen oder Palästinenser*innen verstanden wissen will und die Ereignisse nutzt, um Stimmung gegen Muslim*innen oder Palästinenser*innen zu machen, dem geht es nur um Rassismus. Wenn nun etwa CDU-Chef Merz in Gedankenspielen bei X, vormals Twitter, Kriegsflüchtlingen aus Gaza pauschal die Aufnahme in Deutschland verweigern will und raunt, wir hätten schon genug antisemitische junge Männer im Land, der betreibt übelstes Dogwhistling (übersetze: “junge Männer = “der Antisemitismus in Deutschland ist importiert”), dass wir uns fragen müssen, wo der moralische Kompass der Christdemokraten geblieben ist. Vielleicht ist er zusammen mit den ersten Schichten der Brandmauer abgerutscht.

Um es noch einmal zu sagen: Jeden Tag sehen wir, wie Antisemitismus aus der Mitte der weißen Mehrheits-Gesellschaft kommt.

Rassismus kann keine Antwort auf Antisemitismus sein – genauso wenig wie Antisemitismus eine Antwort auf Rassismus sein darf.

Wir stecken bereits mitten in einer weiteren rassistischen Diskursverschiebung, indem der Kampf gegen Antisemitismus herangezogen wird, um die Rufe nach Repression gegen Muslime und Migrant*innen aus muslimisch-arabisch geprägten Ländern zu rechtfertigen.

Verwaltung des Mangels: Versäumnisse in der schulischen & außerschulischen Bildung

Wenn jetzt Palitücher oder Palästinafahnen an Schulen verboten werden sollen, ist das vor allem Ausdruck einer haarsträubenden Hilfslosigkeit. Bewirken wird das nichts, vielleicht eher das Gegenteil: Junge und nicht mehr junge Menschen werden sich mehr und mehr abwenden.

Die Lehrkraft, die in Berlin einem Schüler wegen des Tragens der Palästinafahne eine Ohrfeige verpasste, ist vielleicht ein extremer, nicht zu entschuldigender Einzelfall. Und auch ein deutliches Indiz für eine Überforderung, die wir im Kontext Schule und Bildung feststellen müssen. 

Gefordert sind Expertisen und geballte Kompetenz von Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen, die komplexen Konfliktlagen in den Schulen auffangen können. Es geht hier um nichts weniger als die Werte der Demokratie und der Menschenrechte. Man muss in der Lage und entsprechend geschult sein, in die direkte Auseinandersetzung zu gehen. Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft – wir dürfen die Lehrkräfte hier nicht allein lassen. Sie können die Folgen der politischen und gesellschaftlichen Fehler, der Mitteleinsparungen der vergangenen Jahre nun wirklich nicht allein ausbaden.

Schon seit Jahren beklagen Einrichtungen wie die unsere den Mangel an qualitativ hochwertigen Unterrichtsmaterialien zum Nahostkonflikt. Zeitgemäße Bildungsangebote müssten historisches Wissen zum Nahostkonflikt mit einer Auseinandersetzung über seine vielfältigen Bezüge in der deutschen Gesellschaft verbinden.  

Wir brauchen auch dringend, schnell und unbürokratisch eine Bildungsoffensive im Netz – die wenigen Projekte, die hier wichtige und verdienstvolle Arbeit leisten, können der enormen Masse an Terrorpropaganda, Israelhass, Judenfeindlichkeit, Rassismus, Verschwörungstheorien und Fake News kaum etwas entgegensetzen. Angesichts der auch von Terrororganisationen gesteuerten Informationskriege und digitalen Propagandaarmeen im Netz sind all unsere Bildungsclips und Postings ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wir brauchen sicherlich auch eine Selbstkritik, inwiefern die politische Bildung breite Zielgruppen mit ihren Angeboten überhaupt erreicht.

Was wir jetzt nicht brauchen, sind Kürzungen der Mittel in einem Feld der Demokratiebildung und Extremismusprävention, das bereits notorisch unterfinanziert und prekär ist.

Wie geht es jetzt weiter?

Was können wir also tun angesichts der Entwicklungen, die vor allem eine Verschärfung und Zuspitzung von Konflikten sind, die schon lange schwelen?
Eines wissen wir gewiss: Wenn wir als Gesellschaft jetzt keinen Kurswechsel schaffen und in diese Bereiche investieren, wird sich die Lage nach einem eingeübten Skript allzu vorhersagbar weiterentwickeln: Die vielfältigen Gräben, die sich durch unsere Debattenlandschaft ziehen, werden sich vertiefen – die Solidarität mit Jüdinnen_Juden wird gegen die Solidarität mit den Palästinenser*innen ins Feld geführt, Kritik am Antisemitismus wird gegen die Kritik an Rassismus in Stellung gebracht und umgekehrt. Der Ton wird schärfer. Rufe nach mehr Repressionen werden laut. Schuldzuweisungen sind im Trend. Die mühsame Arbeit der vergangenen Jahre, das Ringen um Dialog zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, Communities und Religionsgemeinschaften zerrinnt mit jedem weiteren Posting in den Sozialen Medien, mit jedem Statement eines politischen Scharfmachers.

Alles erwartbar. Gewonnen ist nichts.

Wir könnten aber auch das Skript umschreiben. Zum Beispiel, indem wir zuallererst erkennen und anerkennen, dass wir als Gesamtgesellschaft ein echtes Problem haben. Dass uns der Kompass abhandengekommen ist. Dass wir nicht in der Lage sind für eine minimale menschliche Regung: Mitgefühl zu zeigen – ohne Wenn und Aber. Dass wir uns fragen, warum das so ist – und wie wir aus dem Schlamassel wieder rauskommen.

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