Loading...

Do

Der Anschlag von Halle und das Leben danach - Interview mit Anastassia Pletoukhina  

Es waren Bilder wie aus einem Alptraum: Am 9. Oktober 2019, dem Jom Kippur, versuchte ein bewaffneter Mann, die Synagoge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an der Sicherheitstür. Daraufhin tötete er zwei Passant*innen und verletzte zwei weitere, bevor er von der Polizei gefasst wurde. An diesem Tag hielt sich in der Halleschen Synagoge auch die Berliner Sozialpädagogin Anastassia Pletoukhina zum Jom Kippur-Gebet auf. Im Rahmen unserer TuesdayTalks hat sie mit dem Filmemacher und Moderator Adrian Oeser darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt hat, welche Folgen er für das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen in Deutschland hat und was ihr in ihrer eigenen pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus wichtig ist.



Adrian Oeser: Der Anschlag in Halle war eine besonders gewaltvolle Form des Antisemitismus. Hattest du vorher bereits schon einmal in Deutschland Antisemitismus erlebt – in der Schule, an der Uni, im Alltag?


Anastassia Pletoukhina: Vor 15 Jahren hätte ich diese Frage noch verneint – was bizarr ist, weil es allein in meiner Heimatstadt Lübeck einen brutalen Angriff mit Molotow-Cocktails 1994/95 gab.

Mittlerweile habe ich aber so viele Menschen getroffen, die Antisemitismus erlebt haben, und mich damit beschäftigt, was Antisemitismus eigentlich ist, dass mir jetzt doch retrospektiv diverse antisemitische Aussagen, Floskeln und Witze einfallen. Die meisten davon wurden von Menschen gemacht, die sich selbst nie als Antisemit*innen bezeichnen würden, aber deren Sprachpraxis eindeutig antisemitisch ist.

  Ich habe aber glücklicherweise das Gefühl, antisemitische Äußerungen ansprechen und problematisieren zu können – manchmal reicht es schon, sich offen zum eigenen Judentum zu bekennen, und schon werden antisemitische Aussagen nicht mehr einfach so dahingesagt, vielleicht sogar antisemitische Gedanken hinterfragt. Das ist eine gute Erfahrung.


Adrian Oeser: Du lebst seit zehn Jahren mit deinem Mann in Berlin. Am 9. Oktober 2019 wart Ihr in Halle, um Jom Kippur zu feiern – wie kam es dazu?


Anastassia Pletoukhina: Diese Reise hatte viele Hintergründe. In Berlin sind die Synagogen an den Feiertagen proppenvoll, was einerseits schön ist, aber auch anstrengend sein kann, vor allem, wenn man keinen Sitzplatz hat: Denn wir fasten an dem Tag, und das Gebet ist sehr lang. Außerdem war der Chasan, der Vorbeter, ein enger Freund von uns, und wir kannten diese Gemeinde seit vielen Jahren durch die Arbeit mit der Jewish Agency.

Wir waren etwas unter zwanzig Leuten, die als Gäste nach Halle gefahren sind: darunter einige amerikanische Staatsbürger*innen, Deutsche und Österreicher*innen. Einige sprachen nur deutsch, einige nur russisch, einige englisch. Es war ganz durchmischt, und es war schon am Vortag ein schöner Start in den Jom Kippur.


  Adrian Oeser: Wie war die Stimmung in der Synagoge, und wann habt ihr mitbekommen, dass etwas nicht stimmt, dass draußen vor der Tür etwas passiert?


Anastassia Pletoukhina: Jom Kippur ist ein Tag, an dem wir auch in uns selbst schauen sollen, weshalb uns eine ruhige Stadt wie Halle besonders geeignet erschien. Obwohl es ein Wochentag war, war es ziemlich leise. Die Sonne schien, um halb neun Uhr morgens haben wir die erste Meditation gemacht und dann noch ein paar Texte gelesen. Zum Zeitpunkt des Anschlags haben wir die Thora gelesen – zum Glück war gerade niemand draußen, um beispielsweise frische Luft zu schnappen!

  Wir haben einen Knall gehört, aber nicht so wirklich verstanden, was passiert. Es gab ein Überwachungsfenster und eine oder zwei Überwachungskameras, die von der Gemeinde über Spenden selbst installiert worden waren. Und der Security-Beauftragte, eigentlich auch ein Stammbeter, hat gesehen, dass da vor der Tür was passiert, dass da jemand versucht, die Tür zu rammen, und dann darauf schießt. Auch er konnte sich in dem Moment überhaupt nicht artikulieren, weil es ja nichts ist, was man aus dem Alltag kennt und benennen kann. Er sagte nur „Jemand versucht, rein zu kommen!” und dann “Jemand ist tot umgefallen!“

  Die amerikanischen Bürger*innen sind sofort auf den Boden gegangen und haben sich in Sicherheit gebracht, aber bei den deutschen ist sehr langsam angekommen, dass das gerade ein Anschlag ist. Ich glaube, dass das ein Schutzmechanismus war, das abzuwehren: „Nein, das kann nicht sein. In Deutschland? Niemals!” 


  Adrian Oeser: Nach diesem ersten Schutzmechanismus, das nicht glauben zu wollen, habt ihr es dann doch realisiert, denn ihr habt ja dann die Türen verbarrikadiert...


  Anastassia Pletoukhina: Vielleicht ging es auch nur mir so, und bei anderen hat es viel schneller “klick” gemacht. Die Synagoge ist sehr klein, und diejenigen, die näher an der Tür ware, der Sicherheitsmann, der gerade Schicht hatte, und ein paar andere Menschen standen vor diesem kleinen Bildschirm und haben versucht zu verstehen, was los ist.

  Der Gemeindevorsitzende hat sofort die Polizei verständigt und alle anderen Menschen haben sich im hinteren Teil der Synagoge versteckt. Da haben wir dann schon eine antisemitische Attacke vermutet, aber gleichzeitig versucht, das als bloßen Streich zu relativieren. Das eigentliche Ausmaß haben wir erst Stunden später so richtig verstanden, als wir von den Toten und dem Video des Täters erfahren haben.

 
Adrian Oeser: Es dauerte zehn Minuten, bis der erste Streifenwagen kam. In dieser Zeit hat der Täter vor der Synagoge Jana L. erschossen. Wie hast du das Verhalten der Polizei an dem Tag erlebt?


  Anastassia Pletoukhina: Für mich war das selbstverständlich, dass Polizei irgendwie zum Fassadenbild einer Synagoge gehört, und es gab mir immer ein Gefühl von Sicherheit: Egal was ist, in der Synagoge sind wir geschützt, die Polizei ist innerhalb kürzester Zeit da. Ich war sehr erschrocken darüber, dass das in Halle nicht der Fall war. Ich frage mich, warum dem Wunsch der Gemeinde nach permanentem Polizeischutz nicht nachgekommen wurde und auch, warum die  Polizei in einer so kleinen Stadt wie Halle so lange gebraucht hat.


  Adrian Oeser: Was hat das emotional bei dir bewirkt?


  Anastassia Pletoukhina: Ich habe mich ausgeliefert gefühlt: Wenn schon die Polizei uns nicht schützen kann, wer kann uns dann schützen? Es wirft auch Fragen nach den unterschiedlichen Ausdrucksformen von Antisemitismus auf: Wie stark werden wir als jüdische Gemeinschaft als Teil der Gesellschaft gesehen und wie sehr bleiben wir die unbekannten Nachbarn, die exotisiert werden? Zum Beispiel hieß es nach dem Anschlag, es seien “auch Deutsche” gestorben - und es war klar, dass damit nicht deutsche Jüdinnen und Juden gemeint waren. Dabei sind wir doch auch Deutsche!


  Adrian Oeser: Einerseits gibt es ja das deutsche Selbstverständnis, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher sein sollen, andererseits hat Euch letztlich nur eine Tür gerettet. Fallen Anspruch und Wirklichkeit auseinander?


  Anastassia Pletoukhina: Meine Perspektive als Pädagogin ist, dass wir mehr im Bildungskontext machen müssen und dass auch die Medien mit dem Thema anders umgehen sollten. Als Vorsitzende des Jüdischen Studierendenverbands in Berlin habe ich viele Interviews gegeben, und jedes Mal war die Angst vor antisemitischen Übergriffen Leitthema. Wenn ich von anderen Themen gesprochen habe, die Jüdinnen und Juden abgesehen von Antisemitismus beschäftigen, wurde das selten veröffentlicht. Ich finde das problematisch, weil Antisemitismus zwar ein wichtiger Faktor ist, aber es macht nicht unser jüdisches Leben, unsere Alltagsrealität aus.

  Ich glaube aber, dass sich das gerade verändert, weil wir uns nicht nur in eine Opferrolle begeben, sondern beispielsweise als Pädagog*innen jüdischen Glaubens Präventionsarbeit leisten. Es ist wichtig anzusprechen, dass Aussagen oder Bilder antisemitisch sein können, ohne dass zwangsläufig die Menschen, die sich dieser Bilder oder Aussagen bedienen, selbst Antisemit*innen sind. Ich glaube, dass ist die größte Angst von einer*m sogenannten Deutschen, als Antisemit*in betitelt zu werden. 


  Adrian Oeser: Was hat der Anschlag in den Gemeinden bewirkt?


  Anastassia Pletoukhina: Wie in Halle haben nun viele vor allem kleinere jüdische Gemeinden nun die Sicherheit bekommen, um die sie die Stadt oder die Polizei lange gebeten haben, weil dafür von den Bundesländern Budget freigegeben wurde. Vor allem in Halle hat die Gemeinde unfassbar viel Aufmerksamkeit bekommen: Es gab viele Solidaritätsbekundungen und Angebote für Kooperationen. Ich kann mir vorstellen, dass jetzt neue gemeinsame Projekte entstehen, die auch nochmal einen anderen Fokus haben und andere Akzente setzen: Antisemitische Übergriffe wie beispielsweise 2014 die Demonstrationen gegen Israel und die israelische Politik haben bewirkt, dass viele junge Leute unbedingt etwas dagegen machen möchten.

Bei diesen Demonstrationen ging es ganz schnell gegen Israel als Staat, was zu wirklich sehr blanken antisemitischen Aussagen wie „Juden ins Gas!“ führte, was ja dann schon nichts mehr mit Israel zu tun hatte, und „Kindermörder Israel!“, das auf einen mittelalterlichen antisemitischen Topos zurückgeht. Es wurde Kritik an der Politik von Israel vermischt mit einem europäischen antisemitischen Gedankengut. Für viele war das ein Weckruf, zu sagen: „Moment mal, ich mag vielleicht nicht religiös sein, ich gehe vielleicht nicht in die Synagoge, aber genau das hat etwas mit mir zu tun. Und ich werde an meinem Arbeitsplatz oder in meinem Studium von Leuten angesprochen und werde gefragt: "‘Ja, was sagst du denn zu dem was ihr da in Israel macht?”

Ich glaube, die teilweise brutale Demonstration 2014 und auch der Anschlag in Halle sind für viele ein Faktor, um sich nicht zu verstecken, sondern zur eigenen jüdischen Identität zu stehen und Räume zu schaffen, in denen jüdische junge Erwachsene sich sicher fühlen und gemeinsam Akzente jüdischen Lebens setzen können.


Adrian Oeser: Ich habe gelesen, dass der Anschlag von Halle in vielen Gemeinden auch als Zäsur wahrgenommen wurde: Es war der erste antisemitische Anschlag, bei dem es zu sehr vielen Toten hätte kommen können. Viele Menschen haben sich gefragt, ob sie als Juden und Jüdinnen* in Deutschland noch sicher sind...


  Anastassia Pletoukhina: Ich glaube, dass sich Menschen, die sich als jüdisch verstehen, an irgendeinem Punkt im Leben fragen: „Kann ich hier leben? Fühle ich mich sicher?“ Und es gibt sehr viele Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Meine Großeltern haben sich in ihrem Geburtsland, der Sowjetunion, nicht sicher gefühlt, und wir haben auch in Deutschland genügend Anlässe, uns diese Frage zu stellen: Zum Beispiel 2014, zum Beispiel 2015 und auch nach dem Anschlag in Halle. Ich habe die Entscheidung hierzubleiben jedes Mal bewusst getroffen, weil ich Deutschland als mein Zuhause betrachte und glaube, hier etwas verändern zu können. Ich denke, so ähnlich geht es vielen jüdischen jungen Erwachsenen.


  Adrian Oeser: Welche Reaktionen auf den Anschlag von Halle hättest du dir von Seiten der Politik gewünscht?


  Anastassia Pletoukhina: Von welcher Ebene der Politik sprechen wir? Wenn wir von Solidaritätsbekundungen des Präsidenten und der Bundeskanzlerin sprechen: Die sind nicht unwichtig, sondern emotional wichtig und aufbauend. Gleichzeitig haben wir klar antisemitische Parteien. Da wünsche ich mir, dass offen benannt wird, dass die AfD ganz klar antisemitisches Gedankengut propagiert – und welche Auswirkungen es hat. Dass es rechtspopulistische Gesinnung nicht nur salonfähig macht, sondern auch dazu führt, dass Menschen sich ermächtigt fühlen, entsprechend zu handeln.

Wenn wir  zum Beispiel über die Landesebene sprechen, muss viel Arbeit am Schulsystem geleistet werden: Lehrer*innen brauchen Instrumente, mit dem Thema Shoah angemessen umgehen zu können. Wir waren in der zehnten Klasse in Neuengamme in Hamburg im Konzentrationslager und ich und ein weiteres jüdisches Kind wurden damit total allein gelassen. Viele nichtjüdische Kinder fragten sich, was es mit ihrer Familiengeschichte zu tun hat und welche Rolle ihr Opa oder ihre Oma im NS spielten. Ich glaube, jetzt, eine Generation später, gibt es keinen persönlichen Bezug zum lieben Opa mehr, und da besteht die Möglichkeit, die eigene Familiengeschichte vielleicht weniger emotional, sondern sachlicher aufzuarbeiten. Das bedarf harten Trainings für die Lehrer*innen. Vielleicht bedarf es einer Umstrukturierung des Umganges mit dem Thema innerhalb des Schulsystems und natürlich der Förderung von persönlichen, informellen Begegnungen.




Der vorliegende Text ist eine gekürzte und von Anastassia Pletoukhina durchgesehene Fassung des ursprünglichen Interviews, das zuerst in Other Stories '20 erschien.




Anastassia Pletoukhina, geboren in Russland, kam in den 1990er Jahren als Zwölfjährige nach Deutschland und lebt heute in Berlin. Die Sozialpädagogin gründete die jüdische Studierendeninitiative Studentim, arbeitet bei der Jewish Agency Berlin und promoviert in Frankfurt in Soziologie.