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Die Tat war der traurige Höhepunkt einer Welle extrem rechter Gewalt und rassistischer Hetze nach der Wiedervereinigung.

Wir gedenken Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Sie wurden bei dem rassistischem Anschlag in Solingen getötet. 14 weitere Menschen wurden verletzt – zum Teil lebensgefährlich.


Auswirkungen auf von Rassismus betroffene Menschen

Rassistische und extrem rechte Anschläge wie der in Solingen, senden nicht nur eine Botschaft an die Getöteten, Verletzten und ihre Angehörigen, sondern auch an alle, die von Rassismus betroffen sind. Unser Bildungsreferent Talha Taşkınsoy kann sich noch gut an die Zeit nach dem Anschlag aus antimuslimisch-rassistischen Motiven erinnern: „Ich weiß, dass Solingen oft Thema in der Community, Moscheegemeinde und zu Hause war. Mit einer Trauer, die mich hat fragen lassen, ob es Angehörige von uns waren – bis ich verstanden habe, dass die Trauer deswegen so stark ist, weil es auch uns hätte treffen können. Weil wir genau die Biografie aufweisen, wie die Familie Genç.“

  Gedenktage sind wichtig, aber reichen nicht aus

„Ich finde es sehr schade, dass Anschläge wie der in Solingen nur kurz vor und nach den Gedenktagen in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Es reicht nicht aus, an einem Tag zu gedenken, große Blumensträuße hinzulegen, die Familien zu besuchen und Fotos zu schießen, sondern es muss gehandelt werden. Das klingt so abstrakt, aber das ist es gar nicht. Wir brauchen z.B. viel mehr Aufklärungs- und Bildungsarbeit – auch außerschulisch. Auch marginalisierte Menschen brauchen Aufklärung sowie Räume und Safe Spaces – meistens müssen sie sich das alles selbst beschaffen, wie zum Beispiel in Hanau“, sagt Talha.

  Rassistisches Klima nach der Wiedervereinigung

Der Brandanschlag in Solingen fügte sich in eine Reihe rechter und rassistischer Gewalt nach der Wiedervereinigung in West- und Ostdeutschland ein.

Die über Tage andauernden rassistischen und extrem rechten Pogrome auf Geflüchtetenunterkünfte und Unterkünfte ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992) wurden aus der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ sogar noch beklatscht.

Nach der Wiedervereinigung gab es gesamtgesellschaftliche Debatten rund um die gesamtdeutsche Identität. Hetzkampagnen seitens der Boulevardpresse und extrem rechten Parteien fanden sowohl Anklang in der Mitte der Gesellschaft als auch bei Politiker*innen im Bundestag. Die ganze Debatte um Migration und Aufnahme von Geflüchteten war rassistisch aufgeladen und wirkte sich auch auf die Gesetzgebung aus.

Am 26. Mai 1993, also drei Tage vor dem Brandanschlag in Solingen, hatte der Bundestag eine Änderung des Asylrechts beschlossen, die es Asylsuchenden fast unmöglich machte, in Deutschland Asyl zu bekommen.

  Die Rolle des Verfassungsschutzes

Wenige Tage nach dem Brandanschlag wurde öffentlich über die Solinger Kampfsportschule Hak-Pao berichtet, die bekannt dafür war, dass dort Neonazis trainierten. Drei der vier Täter hatten zumindest zeitweise dort trainiert und auch der vierte hatte Verbindungen zur Kampfsportschule.

Etwa ein Jahr nach dem Anschlag wurde bekannt, dass der Leiter der Kampfsportschule ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Während seines Einsatzes entwickelte sich Hak-Pao zu einem wichtigen Treffpunkt der rechten Szene in Solingen.

Inwiefern der V-Mann Einfluss auf die Täter hatte, lässt sich nicht sicher sagen und bis heute ist vieles ungeklärt – die Akten unterliegen einer Sperrfrist von 30 Jahren. Auch unser Bildungsreferent Talha fragt sich: „Was ist das für eine Botschaft? Was macht das mit den Hinterbliebenen? In vielen Punkten sind staatliche Stellen wirklich Weltmeister im Verschlimmbessern. Wenn du verpasst, etwas richtig zu machen, dann versuche wenigstens eine würdevolle Aufarbeitung zu leisten, die sich durch Sensibilität und vor allem Aufklärungswillen auszeichnet.“

  Kriminalisierung der Opfer und Entlastung der Täter

„Es ist und war offensichtlich, dass die Tat rassistisch motiviert war”, sagt Talha Taşkınsoy heute. Statt das zu benennen, war die mediale Berichterstattung nach dem Anschlag und während des Prozesses von Rassismus geprägt. Eine mögliche Unschuld der Täter wurde diskutiert, wofür sich die Familien zweier Täter mit einigen weißen Journalist*innen zusammentaten. Einige Journalist*innen und Rechte gingen noch weiter und beschuldigten die Familie Genç, die Tat selbst begangen zu haben.

Der öffentliche Diskurs hat seine Wirkung gezeigt: Bis heute bezweifeln einige Menschen in Solingen, dass die Täter zurecht verurteilt wurden. Talha sagt: „Bis heute muss um die Anerkennung der Geschehnisse und gegen die rassistischen Narrative gekämpft werden."

  Sammelband: Solingen – 30 Jahre nach dem Brandanschlag

Was sich unser Kollege und Bildungsreferent Talha abschließend wünscht ist, dass „es viel mehr um die Betroffenen geht– dass ihnen eine Stimme gegeben wird und ihre Worte überliefert werden.“

Das ist auch das Ziel des Sammelbands „Solingen – 30 Jahre nach dem Brandanschlag“. Eine Idee von Hatice Genç, die den Brandanschlag überlebte, bildete den Anstoß für seine Entstehung. Der Band widmet sich vor allem der Perspektive der Betroffenen, die lange Zeit kaum repräsentiert wurden. Dort erfahrt ihr außerdem mehr über die Hintergründe des Anschlags in Solingen und die gesamtgesellschaftlichen rassistischen Strukturen, in die der Anschlag eingebettet ist. 


Weiterführende Quellen:

Demirtas, Birgül/Schmitz, Adelheid/Gür-Seker, Derya/Kahveci, Çagri (Hg.) (2023): Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag. Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung, Bielefeld: transcript Verlag. Online im Internet: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6497-3/solingen-30-jahre-nach-dem-brandanschlag/.


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