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14. September 2021

Text: Nabeela Khan


"Zu glauben, dass Muslim*innen den Terror 'dulden' und ihn auf diese Art und Weise gedeihen lassen, ist zynisch und verkennt die Lebensrealität derer, die täglich um Ihr Leben zu fürchten haben und gegen Islamisten ankämpfen."

Der 11. September 2001 hat viele Wunden und tiefe Narben hinterlassen. Der islamistisch- terroristische Anschlag kostete fast 3000 Menschen das Leben und veränderte das von vielen Angehörigen für immer. Zwanzig Jahre 9/11 möchte ich zum Anlass nehmen, um über gesellschaftliche Veränderungen und Auswirkungen zu sprechen. Konkret möchte ich mich darauf konzentrieren, wie sich das Leben von Muslim*innen und Personen, die als solche gelesen werden, nach 9/11 verändert hat. Vielleicht stolpern jetzt einige Leser*innen über das Thema und fragen nach dem kausalen Zusammenhang. Was hat das eine mit dem anderen zu tun hat? Ich sage, sehr vieles! Nein, antimuslimischen Rassismus gibt es nicht erst seit 9/11, er ist viel älter. Dennoch stellt der Anschlag auf die zwei Türme in New York einen Wendepunkt da. Denn nach dem Anschlag entstand eine sehr wirkmächtige Verknüpfung in den Köpfen vieler Menschen: Islam/Muslime = Terror / Gewalt / Bedrohung / Sicherheitsproblem.


Muslimisch gelesene Personen wurden vielerorts verantwortlich für den Terror gemacht und gerieten unter Generalverdacht. Sie wurden auf den Straßen angegriffen und beschimpft.  Dabei hat es auch keine Rolle gespielt, ob und wie religiös eine Person tatsächlich war. Lediglich die (vermeintliche) Zugehörigkeit zur konstruierten Gruppe der Muslime reichte aus. So kam es beispielsweise zu Übergriffen auf Angehörige der Sikh-Religion, die fälschlicherweise für Muslime gehalten wurden. Der Generalverdacht gegen Muslim*innen äußert(e) sich mitunter auch darin, dass sie nach islamistischen Anschlägen aufgefordert wurden, sich dazu zu verhalten und zu distanzieren.
 

Häufig wird ignoriert, dass allen voran Muslim*innen selbst Opfer von islamistischen Anschlägen werden.

Häufig wird ignoriert, dass allen voran Muslim*innen selbst Opfer von islamistischen Anschlägen werden. Sei dies ein islamistischer Anschlag in Afghanistan, in Pakistan, im Irak, in den USA oder eben bei uns in der Bundesrepublik. Denn auch wenn hier bei uns ein Anschlag am Flughafen oder auf dem Weihnachtsmarkt verübt wird, können Muslim*innen genauso davon betroffen sein. Zu glauben, dass Muslim*innen den Terror „dulden“ und ihn auf diese Art und Weise gedeihen lassen, ist zynisch und verkennt die Lebensrealität derer, die täglich um Ihr Leben zu fürchten haben und gegen Islamisten ankämpfen. Aber das passt nicht so ganz in das vorherrschende Bild von Muslim*innen. Es verkauft sich eben besser, sie als Täter*innen und Terrorist*innen zu zeichnen. Sobald Betroffene auf diese Schieflage aufmerksam machen, wird Ihnen häufig entgegengebracht, sie sollen sich nicht so anstellen und sich nicht als Opfer inszenieren.

  Es bleibt allerdings nicht dabei, dass Muslim*innen sich hierzulande „nur“ für weltpolitisches Geschehen rechtfertigen müssen. Vielmehr bekommen sie den Hass in ganz verschiedenen Lebensbereichen zu spüren. Viele erleben in ihrem Alltag, wie sie offen oder subtil als fremd, anders, gefährlich, rückständig, demokratieunfähig, antisemitisch, misogyn und homofeindlich abgewertet werden.

  Aus eigener Erfahrung kann ich von äußerst aufgeregten Lehrkräften berichten, welche eine Klassenkonferenz und Podiumsdiskussion einberiefen, nachdem einige Schülerinnen mit einem Hijab in die Schule kamen. Die Konsequenz war eine Drohung der Schulleitung: „Wer ein Kopftuch trägt, muss die Schule verlassen.“ Oder wie auf dem Rewe-Parkplatz eine Frau angebrüllt wird: „Du dummes Kopftuch, das ist kein Parkplatz!“ Wenn sich im Schwimmbad eine Gruppe zusammentut und eine Frau im Neopren-Anzug beschimpft und rassistisch beleidigt - ohne Angst vor Konsequenzen. Auch stundenlang am Flughafen verhört zu werden – einfach aufgrund der zugeschriebenen Religion, der Hautfarbe, Haarfarbe oder des Namens – bereitet nicht sonderlich viel Freude. Bitte verkneifen Sie sich hier die Illusion, das hätte etwas mit legitimer Religionskritik zu tun.

  Hierzulande bekommen viele Muslim*innen deutlich zu spüren, dass sie nicht Teil des „Wir“, sondern „die Ausländer“ „die Fremden“, oder „die Migranten“ sind und ihnen kein relevanter Platz in der Gesellschaft zusteht, es sei denn sie geben den – nie zu erfüllenden - Forderungen nach Integration, besser: Assimilation nach. Denn Vorfälle wie die genannten passieren nicht im luftleeren Raum. Die gesellschaftlichen und medialen Debatten und Diskurse tragen maßgeblich dazu bei. So gab es in den letzten Jahrzehnten Dutzende Polit-Sendungen, in denen „die problematischen Muslime / Araber / Nafris / Migranten“ Thema waren. Auch Politiker*innen, die immer wieder durch antimuslimische Hetze und oder polemischen Aussagen auffallen, sind keineswegs nur im rechten Spektrum zu finden. Wenn es in Film oder Theater, selten genug, um muslimische Personen geht, werden diese häufig auf ähnliche eindimensionale Art und Weise dargestellt und auf ihr Muslim-Sein reduziert. Solche Charaktere werden selten vielschichtig und komplex dargestellt. Auf Netflix beispielsweise scheint es eine einfache Formel zu geben, wenn es um muslimische Frauen und ihr Leben geht: Hijabi = unterdrückt = muss befreit werden = „westlicher Lebensstil“= zieht ihren Hijab aus und geht in Diskotheken. Ja, da stellt sich mir die Frage: Is Netflix Stereotyping Muslim Women?

  All die genannten Aspekte haben weitreichende Konsequenzen. Weltweit kommt es immer wieder zu Anschlägen auf Muslim*innen. Sei es der rechtterroristische Anschlag auf eine Moschee in Neuseeland oder der jüngste Anschlag auf eine muslimische Familie in London/Kanada. Auch in der Bundesrepublik kommt es immer häufiger zu Anschlägen. Allein im letzten Jahr gab es über 900 Anschläge auf Moscheen oder muslimisch gelesene Einrichtungen - und das ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Antimuslimischer Rassismus tötet, auch hier bei uns. Marwa El-Sherbini, der NSU sowie der Anschlag in Hanau sind Beispiele, bei denen antimuslimischer Rassismus ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt hat. Daher ist es das Gebot der Stunde, das Phänomen als ein relevantes in unserer Gesamtgesellschaft ohne Wenn und Aber anzuerkennen und ernst zu nehmen. Erst dann kann eine aufrichtige Auseinandersetzung und Aufarbeitung gelingen.