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Die Radikalisierung der Querdenken-Bewegung nimmt zu. Telegram spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Die Radikalisierung der Querdenker*innen, Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen nimmt stetig zu. Das zeigt sich nicht nur in der steigenden Gewaltbereitschaft bei den Demonstrationen der Szene – sondern auch in der Verbreitung von Fake News, Mordaufrufen, rassistischen und antisemitischen Parolen und Verschwörungsmythen auf dem Messengerdienst Telegram. Dieser ist nicht zuletzt aufgrund seiner ausgeklügelten Verschlüsselung die erste Wahl für extremistische und kriminelle Gruppierungen. Viele fordern von Telegram nun ein stärkeres Engagement im Kampf gegen Hass und Hetze. 

Welche Beispiele gibt es für die Radikalisierung der Szene?  
Die Liste der erschreckenden Ereignisse wird immer länger. Im Streit um das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erschoss ein Mann im September einen Tankstellenkassierer, mit der Begründung, damit ein Zeichen gegen die Corona-Maßnahmen zu setzen. Vor dem Haus von Sachsens SPD-Gesundheitsministerin Petra Köpping hatten sich im Dezember rund 30 Szeneangehörige zu einem Fackelmarsch versammelt. Ein Familienvater erschoss kürzlich seine Familie, allem Anschein nach aus Sorge vor einer Verhaftung wegen eines Impfzertifikats, dass er für seine Frau hatte fälschen lassen. Ein Dutzend Politiker*innen, Medien, Polizeibehörden und öffentliche Institutionen erhielt kürzlich Drohschreiben, die ein in Alufolie eingewickeltes Stück Fleisch enthielten mit der Botschaft: „Das Fleisch ist mit ausstrahlenden Covid-19-Viren und mit Zyklon B durchseucht. Der Widerstand gegen die Impfung und die Maßnahmen wird blutig und unappetitlich.“ Bei der Untersuchung des Fleisches wurden keine Gefahrstoffe festgestellt, „ausstrahlende Covid-19-Viren“ existieren ohnehin nicht. 

Hetze auf Telegram – kein neues Phänomen  
Es ist seit langer Zeit bekannt, dass Telegram von Rechtsradikalen zur Verbreitung ihrer Ideologien genutzt wird. Denn weder müssen sie sich hier identifizieren, noch ist mit einer Löschung ihrer hetzerischen Beiträge rechnen, wie bei anderen sozialen Netzwerken – auch dann nicht, wenn sie sich damit strafbar machen. Bereits 2015 wurde Telegram von Terroristen und Sympathisanten des IS genutzt, um ihre Propaganda zu verbreiten. Seit Ende 2017 haben auch die Neuen Rechten den Dienst als Sprachrohr für ihr menschenverachtendes Weltbild und als Vernetzungswerkzeug für sich entdeckt. 

Wie ist die Politik bisher gegen Telegram vorgegangen?  
Im April dieses Jahres schickte das deutsche Bundesamt für Justiz in Bonn ein Schreiben an das schwer greifbare Unternehmen mit Sitz in Dubai. Denn die offenen Kanäle von Telegram unterliegen dem deutschen Netzwerkdurchsuchungsgesetz. Somit sei der Dienst verpflichtet, strafbare Inhalte zu sperren und zu löschen, andernfalls drohe ein Bußgeld von bis zu 50 Millionen Euro. Eine Antwort blieb bis heute aus. Somit bricht der Messengerdienst deutsches Recht. „Das wird die Bundesregierung so nicht hinnehmen“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer fordert sogar, die Nutzung des Messengers einzuschränken. Die Antwort auf die Frage, wie eine Regulierung von Telegram im Konkreten aussehen könnte, steht allerdings noch aus. Die App abzuschalten, ist technisch und rechtlich vermutlich schwer umsetzbar. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Telegram in Ländern wie Iran, Belarus und Syrien auch von Oppositionellen und Regimekritiker*innen genutzt wird, da er eine sichere und anonyme Form der Kommunikation bietet. 

Deplatforming als mögliche Lösung? Nur wenn Telegram mitmacht  
Eine Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) aus Jena zeigt, dass „Deplatforming“ eine wirksame Methode im Kampf gegen Hass und Hetze im Netz ist. Es schränkt die Mobilisierungskraft der Hass-Akteur*innen deutlich ein.  
Deplatforming (engl. die Plattform nehmen) beschreibt das Vorgehen sozialer Netzwerke gegen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit im digitalen Raum, beispielsweise durch Sperrung von Nutzer*innenkonten. Dadurch verlieren Hassakteur*innen an Reichweite und Aufmerksamkeit. Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter setzten verstärkt auf Deplatforming. Jedoch stehen sie in der Kritik, oft erst spät oder ab einer gewissen Reichweite zu reagieren. Auf Telegram gibt es jedoch kaum Moderation – und entscheidend ist auch, dass Telegram offenbar gar nicht kooperieren will, da es auf Anfragen der Bundesregierung bisher schlichtweg mit „Ghosting“ reagiert.   

CeMAS-Geschäftsführer Josef Holnburger über Handlungsoptionen von Politik und Zivilgesellschaft 
Was also tun gegen die Radikalisierung der Querdenken-Bewegung auf Telegram? Wir haben Josef Holnburger, um eine Einschätzung gebeten. Zusammen mit Pia Lamberty ist er Geschäftsführer von CeMAS, dem gemeinnützigen Center für Monitoring, Analyse und Strategie. Als Political Data Scientist arbeitet er an der Schnittstelle zwischen den Politik- und Computerwissenschaften. Seit Jahren forscht er zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus, insbesondere auf alternativen Plattformen wie Telegram und untersucht dabei vor allem Radikalisierungstendenzen und -verläufe. 

Bildungsstätte Anne Frank: Was muss sich in Bezug auf Plattformen wie Telegram ändern, um der Radikalisierung entgegenzuwirken? Sind hier Verbote sinnvoll?

Josef Holnburger: Was man auf Telegram zunächst machen muss, ist Konsequenzen zeigen. Wir haben gemerkt, dass in den vergangenen Monaten und Jahren leider Konsequenzlosigkeit das Hauptproblem war. Es gab Mordäußerungen auf Telegram, wüste Beschimpfungen und eindeutigen Antisemitismus. Und wir hatten nicht nur das Gefühl, sondern haben es auch einige Male bestätigt gesehen, dass das zu nichts geführt hat. Es gab Mordaufrufe, die unter Klarnamen gepostet wurden. Verabredungen, wie jetzt zuletzt das ZDF herausgefunden hat, wo sich Leute auch lokal offline getroffen haben, um dann zum Beispiel Mordpläne zu schmieden. Das hätten sie auf Telegram aber auch auf anderen Plattformen wie WhatsApp und Co. machen können. Dagegen muss man vor Ort vorgehen und Konsequenzen aufzeigen, das ist erstmal plattformunabhängig.  
Aber wir wissen auch, dass Telegram von sich aus kaum etwas gegen diesen Hass unternimmt. Im Gegenteil, dem Hass sogar oft eine Plattform bietet. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass nach dem 6. Januar mit dem Sturm auf das Kapitol sehr viele Gruppierungen aus den USA auf Telegram gezogen sind, auch weil sie wussten, dass sie dort relativ wenig Einschnitte erwarten. Wir haben dasselbe auch bereits 2018 mit der Identitären Bewegung gesehen, die sich Telegram als neue Plattform herausgesucht hat. 
Telegram gibt selbst an, zum Beispiel gegen Gewaltaufrufe vorzugehen.Wir sehen aber, dass sie das nur sehr selektiv machen. Nämlich nur dann, wenn sie befürchten, dass es zu einem negativen öffentlichen Image für ihre Plattform führt. 2016 zum Beispiel haben sie eine Löschaktion gegen den IS gestartet, nachdem es dazu eine größere mediale Berichterstattung gab. Aus dem gleichen Grund haben sie nach dem 6. Januar ein paar Rechtsterrorgruppen gelöscht. Ich glaube daher, dass man den medialen Druck gegenüber Telegram erhöhen und darauf hinweisen muss, dass es dieses Problem gibt. Was man aber nicht erwarten darf ist, dass Telegram das von sich aus löschen wird. Auch neue rechtliche oder technische Rahmen werden dabei nicht helfen. Darüber den Hebel zu stemmen, wäre die falsche Erwartung.  

Bildungsstätte Anne Frank: Was kann die Politik also konkret gegen Telegram tun?  

Josef Holnburger: Telegram ist vor dem Gründungsmythos entstanden, eine Plattform zu sein, die niemals mit staatlichen Aktionen interagiert. Pawel Durow, der Gründer hinter Telegram, hat Russland verlassen, weil auf sein anderes Netzwerk „VKontakte“, das russische Pendant zu Facebook, staatlicher Einfluss geübt wurde. Aus dem Gedanken heraus hat er Telegram erstellt. Bis jetzt ist es auch eher eine ideologisch geprägte Plattform, weil sie bisher noch keine schwarzen Zahlen geschrieben hat. Pawel Durow konnte mit Telegram noch keinen Cent verdienen. Ich glaube, deswegen wird sich Pawel Durow, allein aus dieser Ideologie heraus niemals irgendwelchen staatlichen Maßnahmen beugen und niemals mit irgendwelchen staatlichen Organisationen kooperieren. Es wird also sehr schwer, wenn man über diesen Weg gehen will. Das heißt nicht, dass er hoffnungslos ist, man kann ihn parallel beschreiten, aber ich glaube, es ist derzeit sehr viel effektiver, genau dort anzusetzen, wo es jetzt allein von der Geschwindigkeit her sehr viel dringender benötigt wird: Nämlich genau bei diesen Gruppen, die unter Klarnamen posten und die sich jetzt offline zu Fackelzügen verabreden. Genau dort die Konsequenzen zu zeigen, wo es über die letzten Monate und Jahre leider keine gab. Das ist, glaube ich, der Hebel, den man jetzt vor allem nutzen muss. 

Bildungsstätte Anne Frank: Nancy Faeser hat angekündigt, verstärkt gegen Telegram vorzugehen. Wäre das der Hebel, der dazu genutzt werden könnte? 

Josef Holnburger: Genau, sie hat gesagt, neben den Verfahren gegen Telegram möchte sie auch diesen Handlungsdruck erhöhen: Auf Behörden einwirken, sodass solchen Sachen eher nachgegangen wird und Behörden auch dahingehend weiterzubilden, dass sie das auch machen können. Deswegen halte ich das Einsehen bei diesem Punkt für richtiger. Das heißt nicht, dass man von dem anderen absehen müsste. Man muss aber immer aufpassen, denn wenn man technische Lösungen für politische Probleme propagiert, verkleinert man das politische Problem dahinter auch. Von diesem Problem wird uns aber keine richtige oder technische Handhabe erlösen, weil es ein tieferliegendes ist. Es gibt Menschen, die sich über die vergangenen Jahre verschwörungsideologisch radikalisiert haben. Jetzt geht es darum, die Grenzen aufzuzeigen und Handlungen zu nutzen, um dagegen vorzugehen. 

Bildungsstätte Anne Frank: Wie kann eine einzelne Person bzw. die Zivilgesellschaft den Druck auf Telegram erhöhen, gegen den Hass vorzugehen?  

Josef Holnburger: Pawel Durow hat bereits 2018 versucht, mit der Plattform Geld zu verdienen, was damals aus mehreren Gründen nicht funktioniert hat, aber in diesem Jahr wieder gestartet werden sollte. Und wie schafft man das? Indem man Werbetreibende auf die Plattform bekommt. Das heißt, zu sagen, man zieht sich aus der Plattform zurück – mit der privaten Fußballgruppe, der Gruppe der Ehrenamtlichen, Freunden, der Familie und Verwandten, mit denen man darauf geschrieben hat – kann auch den Handlungsdruck auf Pawel Durow und somit Telegram erhöhen, stärker gegen den Hass auf der Plattform vorzugehen. Es ist eine Handhabe, die ich selbst auch so gewählt habe. Ich versuche die Plattform nicht für private Kommunikation zu nutzen, weil ich die Entscheidungen, die dort getroffen wurden, für falsch halte. Ich glaube, dass diese Form von Druck auf Telegram wirkt und die Plattform auch stärker zum Einlenken bewegen wird. Was man also als private Person machen kann, ist, die Aktivitäten auf der Plattform zu reduzieren.  
Andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren, dass wir bei unseren Recherchen von CeMAS, beispielsweise wenn wir auf die Gefährlichkeit für Lokalpolitiker*innen und Journalist*innen hinweisen, sehr oft auf die Zivilgesellschaft angewiesen sind, die diese Plattform im Blick behält und uns zeigt, wo die Angriffe gerade stattfinden und welche Gefahr entsprechende Personen derzeit konkret erwartet.  

Bildungsstätte Anne Frank: Was kann man tun, wenn jemand aus dem Umfeld durch Telegram Verschwörungserzählungen verfällt? 

Josef Holnburger: Wenn man Personen im engeren Familienkreis oder Arbeitskolleg*innen hat, die verschwörungsideologisch überzeugt sind, ist der persönliche Kontakt zu diesen Menschen oft noch das Einzige, was wirklich hilft. Das heißt, wenn man mitbekommt, dass ein Arbeitskollege sich über solche Telegram-Gruppen radikalisiert, dann sollte man vielleicht nicht unbedingt auch Mitglied in der Gruppe werden und es dort thematisieren, sondern das private Gespräch suchen – beispielsweise bei Familienfeiern oder im Pausenraum auf der Arbeit. In diesem Rahmen kann man thematisieren, in welche Echokammern man sich in Telegram rein begeben kann und dass es dort auch Mordaufrufe gab. Vielleicht gelingt es auch so, diese Menschen zu überzeugen, sich insgesamt aus der Plattform zurückzuziehen. Sie werden nicht auf staatliche Maßnahmen und eine staatliche oder journalistische Problematisierung der Plattform eingehen, aber vielleicht hören sie auf Freunde und Verwandte. 

Bildungsstätte Anne Frank: Oft genug arten solche Gespräche jedoch nur in Streit aus. Ist es dann legitim, das Thema komplett zu meiden oder den Kontakt abzubrechen? 

Josef Holnburger: Ich glaube, es ist vollkommen legitim, rote Linien zu setzen und zu sagen: Aus Selbstschutz werde ich mit dieser Person nicht mehr über das Thema sprechen oder sogar generell nicht mehr mit ihr sprechen. Wichtig bei diesem Punkt ist es, das mit einem Angebot zu formulieren: „Ich werde mit dir nicht mehr über dieses Thema sprechen“, oder: „Ich werde den Kontakt zu dir abbrechen, weil du dich in eine menschenfeindliche Ideologie begeben hast, die ich nicht vertreten möchte. Wenn du davon Abstand nimmst, können wir gerne wieder darüber sprechen.“ Auch das sind Maßnahmen, wie man es „eskalieren“ oder eben zum Selbstschutz nutzen kann. Wir wissen, das ist oft der einzige Hebel, der bleibt, um Menschen mit einem geschlossenen verschwörungsideologischen Weltbild zu erreichen. Deshalb ist es vielleicht wichtig, den Kontakt nicht zu verlieren, aber zugleich zu wissen, wo die roten Linien sind und diese aufzuzeigen. 

Das ganze Interview könnt ihr ab dem 22.12.2022 auch als Podcast "Nachgefragt" auf unserem Kanal auf Instagram nachhören sowie auf Spotify und überall wo es Podcasts gibt.

Quellen: 
Frankfurter Rundschau, 15.12.2021, „‘Blutiger Widerstand‘ gegen Corona-Politik. Drohbriefe mit Fleisch aufgetaucht“  
Zeit Online, 13.12.2021, „Nancy Faeser kündigt härteres Vorgehen gegen Hass auf Telegram an“  
tagesschau, 13.12.2021, „Radikalisierte Corona-Leugner: Was kann der Staat gegen Telegram machen?“  
Zeit Online, 12.12.2021, „Sachsens Ministerpräsident will Nutzung von Telegram einschränken“  
tagesschau, 9.12.2021, „Telegram – Kaum zu fassen“  
WAZ, 8.12.2021, „Familie getötet – wegen eines gefälschten Impfzertifikats?“  
Der Tagesspiegel, 15.12.2021, Drohbrief mit Fleisch an Michael Müller – „Lasse mich nicht einschüchtern“  
MDR, 4.12.2021, „Corona-Fackel-Aufzug vor Wohnhaus für Köpping „widerwärtig und unanständig“  
Deutschlandfunk Nova, 13.10.2015, „Terror-Telegram“  
Hass im Netz, „Telegram: Zwischen Gewaltpropaganda und ‚Infokrieg‘“