Loading...


19. April 2024
von Sarah Stemmler


Am 19. April 1943 schlugen jüdische Widerstandskämpfer*innen die SS-Einheiten im Warschauer Ghetto in die Flucht. Mit Molotow-Cocktails, Handgranaten und Gewehren nahmen sie die Nazis unter Beschuss und zwangen sie zum Rückzug.

Aufstand im Warschauer Ghetto 

Am 19. April 1943 schlugen jüdische Widerstandskämpfer*innen die SS-Einheiten im Warschauer Ghetto in die Flucht. Mit Molotow-Cocktails, Handgranaten und Gewehren nahmen sie die Nazis unter Beschuss und zwangen sie zum Rückzug. Sie führten einen aussichtslosen Kampf, in dem Bewusstsein, dass sie nicht gewinnen und ihre Deportation in die Todeslager nicht aufhalten konnten – doch sie wollten sich nicht widerstandslos ermorden lassen. Die Kämpfe zogen sich über Wochen, bis die Deutschen schließlich das Ghetto in Brand steckten und Gas in die Verstecke der Kämpfer*innen leiteten. Am 8. Mai 1943 waren die meisten Mitglieder des Widerstandes gestorben oder hatten Suizid begangen.  

Ein Symbol für jüdischen Widerstand  

Im Warschauer Ghetto, das von einer drei Meter hohen Mauer umgeben war, lebten zeitweise bis zu 460.000 Menschen. Diejenigen, die nicht an Mangelernährung, Krankheit oder Kälte starben, wurden in die umliegenden Vernichtungslager deportiert. Die Widerstandskämpfer*innen konnten die Deportationen verzögern – und töteten eine unbekannte Zahl von SS-Soldaten. Der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde zum Symbol für jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er zeigt, dass Jüdinnen und Juden nicht aufgegeben haben, dass sie sich nicht wie „Lämmer zur Schlachtbank“ haben führen lassen – ein Narrativ, das nach Ende des Zweiten Weltkrieg vielfach benutzt wurde. 

Ein Aufstand unter vielen 

Dabei gab es eine Vielzahl an Widerstandsaktionen: In mindestens 50 osteuropäischen Ghettos haben laut Historiker*innen bewaffnete Aufstände und Ausbruchsversuche stattgefunden. Auch in den Konzentrations- und Todeslagern gab es Widerstandsgruppen. Im polnischen Lager Treblinka legten die Gefangenen einen Brand, der 500 bis 600 Menschen die Flucht ermöglichte. In Belzec wehrten sich Juden und Jüdinnen mit Steinen gegen die SS-Soldaten und zündeten ein Krematorium an. Beim Aufstand von Auschwitz, der lange vorbereitet wurde, sprengten die Widerständler*innen ein Krematorium und verhalfen 100 Gefangenen zur Flucht.  

Symbolischer Widerstand 

Laut Zeitzeug*innen ging es bei den Aktionen nicht in erster Linie ums Überleben – den Gefangenen war klar, dass ihre Chancen äußerst gering waren und sie wahrscheinlich im Widerstand sterben würden. Marian Kawalry, Überlebender des Warschauer Ghettos, erklärt die Motivation:  

„Die Menschen dort hatten nichts mehr zu verlieren. Was sie [mit dem Aufstand] gewinnen konnten, war ein ehrenvoller Tod. Und das ist ihnen gelungen. Sie haben das Ziel des Aufstands erreicht.“ 

Transparenzhinweis: Wir haben in einer vorherigen Version des Textes Marian Kalwary fälschlicherweise als Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto bezeichnet. Marian Kalwary kam im Oktober 1940 im Alter von 10 Jahren in das Warschauer Ghetto, konnte allerdings vor dem Aufstand fliehen und überlebte mit seiner Mutter unter falschen Papieren. Vielen Dank für den Hinweis aus der Community.

Partisan*innen und Soldat*innen 

Viele, denen die Flucht aus dem Ghetto gelang, schlossen sich Partisan*innen an. Die größte jüdische Partisan*innengruppe in Polen wurde von den Bielski-Brüdern gegründet: Tuvia, Zus, Asael und Aharon Bielski errichteten ein geheimes Dorf im Wald, in dem über 1200 Menschen den Holocaust überlebten. Die Bielski-Partisan*innen halfen Juden_Jüdinnen bei der Flucht aus umliegenden Ghettos und beteiligten sich an Sabotageaktionen, etwa gegen die Transportwege der Deutschen.  

Juden_Jüdinnen, die rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnten, traten vielfach in die Armeen der Alliierten ein. Der Historiker Daniel Schmiedke geht davon aus, dass mehr als 30.000 deutschsprachige Juden_Jüdinnen als Soldat*innen im Kampf gegen das NS-Regime zurückkehrten.  

Kultureller Widerstand 

Der Widerstand von Juden und Jüdinnen hatte viele Formen – und wurde nicht immer mit Waffen ausgeübt. Insbesondere in den Ghettos widersetzten sich die jüdischen Gefangenen dadurch, dass sie ihre Kultur bewahrten, für die Bildung ihrer Kinder sorgten und die Verbrechen der Nationalsozialisten in Tagebüchern und Chroniken festhielten. Im Warschauer Ghetto fanden Konzerte und Theateraufführungen statt, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen. So schufen Juden und Jüdinnen nicht nur eine Zuflucht, sondern behaupteten sich auch gegen die Auslöschung ihrer Kultur.  

Vergessener Widerstand 

Trotz der Vielfalt jüdischen Widerstands ist dieser in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent. Laut Achim Doerfer hängt das damit zusammen, dass die Erinnerung an Juden_Jüdinnen im NS von einer Opfer-Ikonographie geprägt ist. Der Jurist und Philosoph beschreibt, dass vor allem die Bilder von Kranken, Verhungernden und Sterbenden im kollektiven Gedächtnis verankert sind – aber keine Bilder von Partisan*innen oder jüdischen Soldat*innen in den Armeen der Alliierten. Stattdessen erinnern wir uns vor allem an nichtjüdische Widerständler*innen, wie die Studierendengruppe Die Weiße Rose“. Das ist zwar auch wichtig, vermittelt aber ein schiefes Bild: von einzelnen widerständigen Deutschen und passiven Opfern. Proportional betrachtet war der jüdische Widerstand allerdings viel zahlreicher.     

Erinnern verändern 

Es gibt Stimmen, die sich für einen Feiertag am 19. April aussprechen, der dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet ist. Es könnte ein guter Ansatz sein, um das Gedenken positiv zu verändern, indem  auch an den Widerstand von Juden_Jüdinnen erinnert wird, statt nur an ihre Ermordung. In Israel wird genau das getan: Und zwar am Nationalfeiertag Yom Hashoah, an dem an die Held*innen des Holocaust gedacht wird.  

Was denkst du? Welche NS-Widerstandskämpfer*innen, die wir hier nicht erwähnt haben, sollten mehr Aufmerksamkeit bekommen? 


Im Rahmen unserer neuen Reihe „Off the record“ nehmen wir unsere Erinnerungskultur unter die Lupe – und versuchen, die Personen, Ereignisse und Aspekte zu thematisieren, die nicht genug Raum bekommen.